Nichts für Menschenscheue: Hostelleria Vejo
Die Sehnsucht führt Deutschschweizer seit Jahrzehnten über den Gotthard. Viele dieser Orte haben eine bewegte Geschichte. Einige davon kann man besuchen und ein Stück Lebenserfahrung nach Hause nehmen.
«So sympathisch waren Sie mir noch nie», sagte die Schülerin ihrer Lehrerin bei der morgendlichen Begrüssung. Was war geschehen? Die Klasse war am Vortag für ein Wochenlager in die Hostelleria Vejo ins Valle di Campo im Tessin gezogen. Die Hostelleria ist ein kleiner Weiler unterhalb von Linescio aus stilvoll und originell wiederaufgebauten Rustici, eingebettet in die wilde Tessiner Natur. Bereits ein Tag an diesem Ort genügt offenbar, um den Menschen und seine Beziehungen zu verwandeln.
Angefangen hat diese Verwandlung vor 49 Jahren, als der 21-jährige Maurer Umberto Hollenweger aus dem Kanton Aargau mit drei Kollegen Ferien in Rimini verbrachte. Der damals angesagte Badeort an der Adria war offenbar nicht ganz nach dem Geschmack der Naturburschen, sodass sie noch eine Wanderwoche im Valle Maggia anhängten und auf ihren Streifzügen auf ein baufälliges Rustico in Linescio stiessen. Damals wirklich günstig zu haben, kauften sie es und bauten es zu einem Ort für ihre ausgelassenen Ferien aus.
Umberto wurde älter, der letzte Bauer am Ort gab auf und die vergandeten Terrassen und die zerfallenden Trockenmauern entwickelten sich zu einem Ärgernis. Er organisierte «Chrampfer-Lager» mit Freiwilligen und begann, die terrassierten Kulturflächen wieder instand zu stellen. Zur Deckung der Kosten gründete er eine Stiftung.
Ein nächster grosser Schritt stand an, als sich die zerfallenden Rustici in der unmittelbaren Umgebung zu einer Gefahr für Kinder entwickelten. Sukzessive kaufte die Stiftung weitere Rustici und baute sie zu flexibel nutzbaren Ferienwohnungen aus. Nach einem letzten kräftigen Investitionsschub verfügt die Hostelleria nun über sechs Ferienwohnungen mit insgesamt 70 Schlafplätzen, überwiegend mit Mehrbettzimmern. Ausserhalb der Hochsaison werden sie vor allem von Schulen für Klassenlager genutzt. Auf dem Areal hat es mehrere Feuerstellen, einen Robinsonspielplatz, eine Boulebahn und geschützte Sitz- und Liegeplätze zum Alleinsein und für gemütliche Höcks. Allzu menschenscheu sollte man allerdings nicht sein, wenn man in der Hostelleria Urlaub machen will.
Geöffnet ist die Hostelleria von April bis Oktober, betreut von einem «Hüttenwart», aber immer beäugt und beseelt von Umberto, der nach seiner Maurerlehre das Wirtepatent machte und zwanzig Jahre lang verschiedene Betriebe führte, bevor er Soziologie und Jura studierte und heute eine Mediationspraxis, eine «Rechtspermanence» mit Rechtsberatung rund um die Uhr und eine «Rechtsschule» für Laien führt. Sollte es ausnahmsweise doch einmal zu Konflikten kommen, ist man in der Hostelleria in guten Händen.
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Hostelleria Vejo, Canton Sott’ 1, 6682 Linescio. 4 Rusticos, 5 Wohnungen, 1 Grottino. Übernachtung Fr. 29.–/Pers.
Geöffnet April bis Oktober. www.hostelleria.ch
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Christoph Pfluger
Christoph Pfluger ist seit 1992 der Herausgeber des Zeitpunkt. "Als Herausgeber einer Zeitschrift, deren Abobeitrag von den Leserinnen und Lesern frei bestimmt wird, erfahre ich täglich die Kraft der Selbstbestimmung. Und als Journalist, der visionären Projekten und mutigen Menschen nachspürt weiss ich: Es gibt viel mehr positive Kräfte im Land als uns die Massenmedien glauben lassen".
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