Drei Schicksale, drei Ängste und ein Turm zu Babel
Zur selben Zeit, am gleichen Ort, prallen drei Individuen in ihrem Welt-Erleben aufeinander. Gegenseitiges Unverständnis, Sprachlosigkeit und Einsamkeit sind die Folgen. Wie bauen wir Brücken zueinander? Kolumne.
Heidi, sie könnte auch Lina heissen, wohnt in unserer Nachbarschaft, gleich gegenüber. Sie ist schon alt, um die 80, Generation ängstlich und vertrauensselig den Ärzten und Obrigkeiten gegenüber. Da sitzt sie nun, seit über einem Jahr, in freiwilliger Gefangenschaft in ihrer Wohnung, findet die Massnahmen gut. Hat Angst, vor einem Virus, Angst, zu sterben.
Oft bringt jemand Einkäufe für sie mit, stellt sie auf den Fenstersims der Parterrewohnung. Manchmal steht da auch ein Blumenstrauss oder ein Bild von den Enkelkindern. Einige Zeichnungen zieren schon die Fensterscheibe. Die farbige Seite schaut bei allen nach aussen. Nach innen ist wohl nur das weisse Blatt Papier zu sehen, das leere…
Leer ist auch ihr Leben geworden, ein unbeschriebenes Warten… worauf?
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Da ist auch die kinderreiche Familie Fleissig im Dorf. Beide Eltern selbständig, der Vater auf dem Bau, die Mutter in einem therapeutischen Beruf. Ein Jahr schon dauert der Seiltanz zwischen Bangen und Hoffen, ob sie die Arbeit wieder ganz aufnehmen können, ob es endlich zu Lockerungen kommt. Wie eine rastlose Fahrt auf der Achterbahn, mal steil hinauf und dann im Sturzflug hinunter, Spannung in endlosen Schleifen. Je knapper die Mittel, desto grösser wird die Angst um die Existenz. Angst vor dem Hunger, Angst davor, auf der Strasse zu stranden, und letztlich Angst vor einem langen Dahinvegetieren, hin zum Tod.
Auch ein langsames Sterben endet mit dem Tod.
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Da ist Hannes, seit Jahrzehnten aus Ostdeutschland in die Schweiz eingewandert, froh, einem einschränkenden Staatssystem entronnen zu sein. Nun steigen sie plötzlich wieder auf, Erinnerungen und Bilder aus seiner Vergangenheit, von der er dachte, er hätte sie hinter sich gelassen. Wiederbelebte Albträume an uniformierte Männer mit eiskaltem Blick holen ihn wieder ein, die damals jeden niederknüppelten, der sich nicht staatkonform verhielt. Bilder von Menschen, die auf rätselhafte Weise verschwunden sind, über die getuschelt wurde, ängstlich darauf bedacht, deren Namen nicht laut auszusprechen, vermischen sich auf verwirrende Weise mit einer Gegenwart, in der immer mehr Themen tabuisiert werden. Angst steigt auf, vom Unberechenbaren überrollt und fortgezerrt zu werden, dorthin, wo jede Hoffnung schwindet.
Todesschatten der Vergangenheit vermischt mit Sterbensängsten der Zukunft.
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Drei einsame Schicksale, jedes für sich und doch verbunden in der lähmenden Sprachlosigkeit eines modernen Turms zu Babel. Jeder dieser Menschen verharrt in seiner eigenen Meinungsblase und versteht weder die Sorgen, noch die Beweggründe und das Handeln des Andern, obwohl ihre Ängste derselben Situation entspringen. Es kann sogar so weit kommen, dass sie sich als Feinde erleben und es zu einer Spaltung kommt, bei der eine vierte Urform der Angst riskiert wird: Eskalation die zu Spaltung und Krieg führt, zu Gewalt, Zerstörung und unermesslichem Leid.
Doch, was, wenn Heidi, Hannes und Familie Fleissig bloss Figuren sind, aus einem Albtraum, der sich immer mehr in Richtung Spaltung, Hass und Krieg hin zuspitzt?
Was, wenn du aufwachst, ihnen im realen Leben begegnest und siehst, wie sie sich friedlich und interessiert gegenübersitzen, ihre Ängste vor Krankheit, vor Armut und vor einer Diktatur vorurteilsfrei austauschen und gemeinsam nach Lösungen suchen?
In einer Welt des gegenseitigen Respekts und des empathischen Umgangs miteinander, wird in Freude gelebt und in Würde gestorben.
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Mirjam Rigamonti Largey aus Rapperswil in St. Gallen ist Psychotherapeutin, hat Psychologie, Religions-Ethnologie und Ethnomedizin studiert, arbeitet als Kunstschaffende, freie Schriftstellerin und als Friedensaktivistin.
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