In ihrem neuen Buch «Ich schwimme nicht mehr da, wo die Krokodile sind» erzählt das frühere «Dschungelkind», was sie erkannte, als sie als Erwachsene in den Dschungel zurückkehrte.

Sabine Kuegler
Sabine Kuegler. Foto: Monika Albers z.V.g. Westend-Verlag

«Meine Geschichte begann an dem Tag, an dem mein Vater das Volk der Fayu entdeckte, einen Stamm, der in seiner Entwicklung seit Jahrhunderten stillsteht. Es war auch der Beginn des inneren Zusammenpralls zweier Welten. Denn ich trage in mir die Kultur, die Psychologie, die Mentalität und die Spiritualität von zwei Gesellschaften, die so gegensätzlich und so voneinander verschieden sind, dass sie auf unterschiedlichen Planeten zu Hause sein müssten.»

Sabine Kuegler wurde 1972 in Nepal geboren. Im Alter von fünf Jahren kam sie mit ihren Eltern, beide Sprachwissenschaftler, in den Dschungel von Westpapua, Indonesien, wo sie ihre Kindheit und Jugend verbrachte. Die Familie lebte dort mit einem damals kaum bekannten indigenen Stamm, den Fayu. Sabine wuchs im Dschungel auf. 

Ihr erstes Buch «Dschungelkind» wurde 2005 ein weltweiter Millionenbestseller. Mit 17 Jahren kam sie nach Europa und machte eine Ausbildung in einem Schweizer Internat in Montreux am Genfersee – und erfuhr einen Kultur-Clash. Heute lebt sie in Hamburg, hat Kinder, Freunde und Arbeit.

Im Dschungel hatte sie gelernt, unsichtbar zu werden, um zu überleben – in der westlichen Welt muss man sichtbar sein. 

Aber noch immer ist sie eine Zerrissene zwischen den Welten. Der innere Kampf um ihre Identität quält sie. Im Dschungel hatte sie gelernt, unsichtbar zu werden, um zu überleben – in der westlichen Welt muss man sichtbar sein. Sie wurde darauf trainiert, ihre Welt mit allen Sinnen wahrzunehmen, aber hier waren sie permanent überreizt. Sie zweifelt und blickt von aussen und innen auf unsere Zivilisation: Sind wir hier glücklich? Entfremdet? Gesund? Krank?

«Manchmal kommt in mir dieses unverkennbare Gefühl hoch. Ich muss mich dann sehr zusammenreissen. Ich fühle Emotionen, von denen ich weiss, dass ich sie unterdrücken sollte, denn sie gehören nicht hierher. Sie gehören in den Urwald. Hier im Westen sind sie fehl am Platz. Hier muss ich ein anderer Mensch sein als dort. Trotzdem kommen sie immer wieder hoch, ich kann es nicht verhindern. Es sind Gefühle von Wildheit und Lust. Es ist pures Adrenalin, das in meinen Körper schiesst und den Jagdtrieb in mir erweckt. Es beginnt damit, dass ich Blut in meinem Mund schmecke. Da ist kein Blut, aber der Geschmack ist trotzdem da. Ein salziger, metallischer Geschmack, der sich ausbreitet und in meine Kehle sickert. Mein Atem geht dann schneller, auch der Herzschlag beschleunigt sich. Adrenalin füllt meine Adern und ein kribbeliges Gefühl erfasst mich. Ich werde immer unruhiger. Mein ganzer Körper fühlt sich an, als würde er vibrieren. Meine Sinne werden schärfer, mein Blick fokussiert sich. Mein Geruchssinn erfasst alles um mich herum, ganz präzise. Ich kann jedes noch so kleine Geräusch hören, fast so, als hätte jemand in meinem Kopf den Lautstärkeregler nach oben geschoben. Jede Bewegung um mich herum, jeder Stimmungswechsel, jede Farbe wird intensiver in meiner geschärften Wahrnehmung. Bis zu dem Punkt, an dem ich mich wie in einer anderen Dimension fühle.»

Mehrfach kehrt sie in den Dschungel zurück. 2012 erkrankt Sabine Kuegler schwer, die Ärzte geben sie auf. Sie unternimmt einen letzten verzweifelten Rettungsversuch: Sie verlässt Deutschland, gibt ihre Kinder in die Obhut ihrer Väter und kehrt in den Dschungel zurück – an den Ort, der sie in der Kindheit schon geschützt hat. Dort lebt sie fast fünf Jahre mit verschiedenen Stämmen im tiefsten Urwald von Papua-Neuguinea und den Salomon-Inseln und findet schliesslich Heilung. 

Sie erlebt dort Dinge, die für viele Menschen kaum zu glauben sind. In ihrem neuen Buch «Ich schwimme nicht mehr da, wo die Krokodile sind» erzählt sie nun erstmals von dieser dramatischen Zeit, von ihrer Suche nach Heilung, Glück und ihrem Platz im Leben. Dabei öffnet ihr einzigartiges Leben vielleicht auch die Chance, in einer globalisierten Welt Mittlerin zwischen den Kulturen zu sein. 

In einem Interview sagt sie zu ihrem Buch: «Anders als in meinem Debüt Dschungelkind erzähle ich hier nicht aus der Perspektive des Kindes, sondern aus der einer Frau, die in den melanesischen Kulturraum zurückgekehrt ist und die Welt ihrer Kindheit mit anderen, gereiften Augen sieht. Erst dort, aus der Entfernung, habe ich begonnen, die westliche Kultur zu verstehen, in der ich ab meinem 17. Lebensjahr gelebt habe, aber in der ich nie angekommen bin. Ich habe die Unterschiede in den Überlebensstrategien der Stämme und der westlichen Gesellschaft erfahren, welchen Preis die Freiheit der Menschen im Westen hat und warum die persönliche Unfreiheit der Menschen im Stamm von ihnen gar nicht als einengend empfunden wird. Ich habe gelernt, dass meine Identität keine Frage der Hautfarbe ist, sondern der Kultur, in der ich aufgewachsen bin.» 

Heute arbeitet Sabine Kuegler als Unternehmerin und engagiert sich gegen soziale und kulturelle Missstände.

BuchcoverSabine Kuegler: Ich schwimme nicht mehr da, wo die Krokodile sind, 296 Seiten, Westend Verlag, November 2023

www.westendverlag.de


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