Widerstand ohne Gegnerschaft? Eine Problemskizze (Teil 4)
Widerstand ohne Gegnerschaft... in diesem Teil 4 veröffentlichen wir einen längeren Essay, den uns ein Autor zugesandt hat. Es ist eine historisch-philosophische Annäherung an die Möglichkeiten wirksamen Widerstandes.
Hier geht es zur Folge 1, Folge 2 und Folge 3.
I
Eine zunächst philosophische Herangehensweise wäre der Versuch, den Begriff des Widerstandes zuerst in seinen vielfältigen Verwendungsweisen zu begreifen, damit wir wissen, wovon wir reden. Physikalisch meint der Begriff u.a., dass ein elektrischer Widerstand den fliessenden Strom bremst, um die Stromstärke zu reduzieren und empfindliche Bauteile zu schützen.
Psychologisch meint Widerstand das ablehnende Erleben oder Verhalten von KlientInnen gegenüber bestimmten Gefühlen oder Einsichten, die mit zutiefst schmerzhaften Erfahrungen verknüpft sind und sich gegen ihre Bewusstwerdung wehren.
Philosophisch lässt sich der Begriff des Widerstandes u.a. auf Henry David Thoreau (1817-1862) beziehen, der in seinen Gedanken zum zivilen Ungehorsam die Idee entwickelte, dass Widerstand – individuell und kollektiv – dann gerechtfertigt ist, wenn die staatlichen Gesetze existierendes Übel tolerieren oder gar von seiner Existenz profitieren. Er weigerte sich beispielsweise, Steuern für eine Regierung zu zahlen, die den Sklavenhandel als unproblematisch betrachtete. Bei Thoreau wird Widerstand somit zur ethischen Pflicht gegenüber gesellschaftlichen Verhältnissen, die Inhumanität zur herrschenden Normalität erklären.
Gibt es einen Widerstandsbegriff in den spirituellen Weisheitstraditionen? Eine - gewagte - Annäherung wäre hier die Idee, dass wir uns in unserem Bewusstsein – der universalen Bedingung jeder möglichen Erfahrung, die wir zu machen imstande sind –, Strategien zurechtlegen, die verhindern, dass wir uns mit unserem tieferen Kern verbinden. Diese Widerstandsstrategien, die hier der Einfachheit halber als Gier (Anhaften), Ablehnung (Aversion) und Unwissenheit (Ignoranz) bezeichnet werden, werden als tief automatisierte Mechanismen verstanden, die ein inneres, unsichtbares Gefängnis errichten und unser Erleben in den starren Bahnen unserer Gewohnheiten und Handlungsroutinen fixieren.
Eine begriffslogische Ergänzung: Es gibt nicht DEN Widerstand, an dem wir politisch Anteil nehmen oder nicht - so wenig wie es Aktiengesellschaften gibt, die wir auf dem Gehsteig antreffen. Der Begriff ist eine Abstraktion, die zum Substantiv gerinnt, während es vielleicht naheliegender ist zu sagen, dass es widerständige Menschen, widerständige Gedanken oder widerständige Aktionen gibt, die sich situativ und konkret auf spezifische Kontexte beziehen und jedes einzelne Mal von Neuem erprobt, erarbeitet und erkämpft werden müssen durch ein politisches Engagement, das durch unsere persönlichen Entscheidungen zustande kommt. In den Kampfkünsten des sogenannten fernen Ostens finden wir ergänzend die essenzielle Idee, dass in kämpferischen Auseinandersetzungen die Kräfte des Gegenübers durch ein «sanftes Nachgeben» derart umgeleitet werden können, dass sich die Kräfte der angreifenden Person (wahlweise: Institution, Struktur, Nation) gegen sie selbst verwendet werden. Hier steht demnach auf der Ebene des Kampfsports ein Modell zur Verfügung, in dem nicht das polarisierende und kräfteverschleissende Wechselspiel von Kraft und Gegenkraft, Angriff und Verteidigung im Zentrum aller Bemühungen steht.
Nur, was heisst das jetzt konkret?
II
Das historische Spektrum von Widerstandsaktionen reicht - stark vereinfacht - von einer kritischen Gegenöffentlichkeit (wie es zum Beispiel die Zeitschrift Zeitpunkt ist) über parlamentarische Initiativen (Gletscherinitiative, GSOA I und II) bis zu den teils gewaltfreien, teils gewaltförmigen, Polit-Aktionen wie öffentliche Aufrufe, Proteste, Boykotte, Solidarveranstaltungen, Demonstrationen, Kundgebungen, Unterschriftensammlungen und - wenn dies alles aussichtlos erscheint - bis zu Aktionen von Greenpeace, die Castor-Züge mit radioaktivem Atommüll behindern oder ausserordentlichen Fabrikbesetzungen durch AnarchistInnen im Italien der 20er Jahre. (Terroristische Gewalt linker und rechter Herkunft lassen wir hier auf der Seite – sie wären ein Thema für sich.)
In der philosophischen Tradition der Kritischen Theorie (Die Frankfurter Schule um Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse, Max Horkheimer, Jürgen Habermas etc. - alles weisse, europäische, akademisch ausgebildete Männer - wir bitten im Kontext aktueller Zeiten um Nachsicht) lag die Kraft des Widerstands wahlweise
a) im kritischen Denken selbst, das sich abkapselt gegen das stählerne Gehäuse eines profitmanischen Finanzkapitalismus (Adorno),
b) in der theoretisch und politisch orchestrierten Revolte der GlobalisierungsverliererInnen (Marcuse),
c) im Festhalten an den rationalen Grundvoraussetzungen eines kommunikativen Handelns im Kontext widerstreitender Interessenkonflikte (Habermas) oder
d) im depressiv angehauchten Rückzug in eine scheinbar praxisferne Mystik, die sich konsequent der omnipräsenten Verwertungslogik des Systems» zu entziehen vermag (Horkheimer).
In allen Varianten erscheint stets dieselbe Grundidee: In Fragen des Widerstands ist die Rolle der Philosophie die kritische Reflexion gesellschaftlicher Lebens-, Produktions- und Herrschaftsverhältnisse, das Hinterfragen eigener und fremder Selbstgefälligkeiten sowie das Ermöglichen öffentlicher Diskurse, die sich orientieren an Analyse statt Behauptung, an gehaltvollen Argumenten statt dogmatischen Verkündungen.
III
Lässt sich etwas lernen aus dieser zunächst multiperspektivischen Relationssicht auf Formen und Ideen zum Begriff Widerstand (mit oder ohne Gegenkräfte) oder ist das bisher eine harmlose, akademisch angehauchte Spielerei ohne Praxisrelevanz?
These 1
Der Beton unseres politischen und privaten Narzissmus darf in allen Weltanschauungsfraktionen als dick bezeichnet werden. Wir glauben oftmals, Recht zu haben, besonders integrativ, edel oder rechtschaffen zu sein; wir neigen dazu, uns zu identifizieren mit Meinungen / Standpunkten und unsere Handlungen erscheinen uns in bestürzend vielen Fällen ungetrübt von egozentrischen Motiven oder den Schatten des Unbewussten, das uns abgespalten in abgewandelter Form in der Aussenwelt wiederbegegnet. Widerständig sind wir, wenn es uns gelingt, die Widersprüche, Ungewissheiten und Paradoxien in komplexen Konfliktfeldern auszuhalten und uns eingestehen, dass unsere eigene Sichtweise genauso perspektivisch und fragmentarisch sind wie diejenige der anderen. Nicht politische Parteizugehörigkeit oder subjektive Wertkataloge, welche die Menschen und ihre Handlungen in Gut und Böse einteilen, sondern die leistungsfähigeren Analysen mögen die Grundlage unserer Widerstände werden. Ein gewaltfreier Akt des Widerstands wäre, sich nicht in bestehende Schubladen einzuordnen, die oft nichts anderes jenes ideologische Lagerdenken reproduzieren, das unsere Gesellschaft zu zerreissen droht. Ein umstrittenes Beispiel?
Ist unser Ringen in den zahllosen Debatten um Waffenlieferungen oder Neutralität im Kontext des Ukraine-Krieges Ausdruck einer käuflichen, verlogenen und heuchlerischen Neutralität? Wenn die kriegführenden Parteien ungleich an Macht sind, ist dann Neutralität blanker Hohn gegenüber dem schwächeren Land, das eine Invasion erleidet? Für die einen scheint dies ausgemacht. Ist umgekehrt die Bejahung militärischer Gewalt im Rahmen des massenmedial verbreiteten TINA- Prinzips (There is no Alternative) ein verstörender Rückfall in die Re-Militarisierung der Gesellschaft mit explodierenden Rüstungsbudgets, deren Gelder wir so dringend in die Dekarbonisierung der Wirtschaft investieren müssten? Dies scheint für die anderen ausgemacht. Kann es sein, dass beide Seiten zentrale Problemdimensionen beleuchten, die beide ihre – leider widersprüchliche - Berechtigung haben? Gibt es in dieser vertrackten Lage Möglichkeiten eines gewaltfreien, menschen-freundlichen Widerstands, der sich nicht einer Weltanschauungsfraktion anschliessen muss? Gibt es Möglichkeiten, glaubwürdig zu bleiben und sich dennoch der vorschnellen Identifizierung mit vermeintlich klaren Standpunkten zu entziehen? (Wir sind uns darüber im Klaren, dass die Komplexität des Ukrainekrieges hier nicht in zwei Abschnitten abgehandelt werden kann und dass es zum Beispiel nicht klar ist, ob eine dritte Option im Sinne des Altbundeskanzlers Helmut Schmidt Lieber hundert Stunden erfolglose Diplomatie als ein einziger Schuss wirklich ausgeschöpft worden ist. Dies mögen andere ausgewogener beurteilen.)
Philosophisch geschulte Menschen sind oftmals nicht Bewohnerinnen oder Bewohner fester Weltanschauungen; das ist es, was sie zu Philosophinnen und Philosophen macht. Sie versuchen viel mehr, deren widersprüchliche Grundzüge zu rekonstruieren uns einer Analyse zu unterziehen. Von der Kritischen Theorie könnten wir lernen: Solche Widersprüche sind historisch, nicht naturgegeben. «Sie drücken die Konfiguration von Glück und Freiheit in einer unfreien Gesellschaft aus, in der die Formen des Glücks unfrei und die Erscheinungsweisen der Freiheit unglücklich sind. Heute wetteifert das eine mit dem anderen: jede «Lösung» ist die falsche». (Herbert Marcuse)
Verkümmert nicht das freie Denken, wenn es sich vor die Zwangswahl gestellt sieht, für Waffenlieferungen zu sein im Namen eines westlichen Wertebündnisses gegen eine imperiale Expansionspolitik (und damit Waffengewalt, Rüstungsindustrie, mehr Kriegstote und die Traumatisierung mehrerer Generationen in Kauf nimmt) oder gegen Waffenlieferungen zu sein im Namen eines humanistischen Pazifismus, der sich nicht in die Kriegslogik geopolitischer Machtkämpfe verstricken will (und damit die ukrainische Bevölkerung einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg ausliefert)?
Zur Erinnerung: Wir erlebten ein ähnliches Dilemma in den 90er Jahren, als es um die NATO-Intervention im Ex-Jugoslawien ging. Wer will sich anmassen, einen «gerechtfertigten Krieg» auszurufen, und sei es gegen Gewaltherrschaft und Völkermord? Wer will sich umgekehrt anmassen, auf die Barbarei von ethnischen Säuberungen bis zu genozidalen Vernichtungsstrategien bloss mit moralischen Appellen und ein paar gut gemeinten Sanktionen zu reagieren? Ist es auch nur ansatzweise klar, was in solchen verwickelten Situationen Widerstand bedeuten könnte? Widerstand gegen wen oder was anhand welcher Massstäbe? Setzt der Begriff Widerstand nicht voraus, dass wir immer schon zu wissen glauben, was das «Richtige» ist und wir selbstverständlich auf der «richtigen» Seite sind?
These 2 (in Variationen)
Widerständige Gedanken oder Handlungen erfolgen nicht aus ideologischer Indoktrination – welcher Herkunft auch immer – sondern aus der stets gefährdeten Balance zwischen intellektueller Klarheit, emotionaler Bezogenheit und einem polit-ökonomischem Kontext; zwischen analytischem Verständnis und praktischer Umsetzbarkeit, zwischen der kargen Lichtquelle unserer Vernunft und dem, was spirituelle Weisheitstraditionen Herzensqualität nennen.
Widerstand ist dann möglich, wenn es uns gelingt, glaubwürdige Lebensmodelle zu sein für alles, was wir als essenziell erachten in unserem Sturz durch die Zeit; wenn wir einsehen, dass wir die meisten Sachverhalte, Hintergründe und Zusammenhänge vielfach oberflächlich verstehen, dass wir in anderen Fällen auf eine fatale Weise einseitig sind und dass unsere Persönlichkeit sowohl Grundlage als auch Gefängnis unserer Existenz ist.
Widerstand in seinen vielfältigen Erscheinungsweisen ist dann möglich, wenn es uns gelingt, mit einer Prise Ironie durch die zahlreichen, überaus schweren und kaum auszuhaltenden Schrecken unserer Zeit zu wandeln - im Bewusstsein, dass auch unsere innersten Überzeugungen anders sein könnten im Sinne einer historischen Zufälligkeit unserer kulturellen und moralischen Identität - dass sie also weder sakrosankt noch ewig sind. Für die regulativen Ideen a) Menschenrechtsuniversalismus, b) Rationalitätsstandards in Sachfragen und c) einer internationalen Rechtsordnung muss eine Ausnahme erlaubt sein-. Sonst landen wir einem Relativismus gefährlichen Ausmasses.
Widerstand ohne Kampf, Aversion und Spaltung ist dann möglich, wenn wir uns der Ahnung hingeben, dass selbst die progressivsten politischen, normativen oder wissenschaftlichen Modelle (Marxismus, Psychoanalyse, Relativitätstheorie, Postkoloniale Studien etc.) in ihr Gegenteil verkehrt werden können und anfällig bleiben für Ideologie, Machtmissbrauch, Denunziation, Selbstgefälligkeit und Menschenverachtung. Das starre Festhalten an unseren inneren Drehbüchern, Dogmen, Konzepten und Meinungen ist wenig hilfreich, wenn wir die Konturen eines nachhaltigen Widerstandes ohne Gegenkraft zu denken versuchen.
Widerstand wird dann möglich, wenn wir in der allgemeinen Empörungs- und Belehrungskultur nicht mitmachen – dieser toxischen Mischung aus Meinungsfreude, Kenntnisarmut und Gedankenschwäche – und uns stattdessen die Grundlagen kritischen Denkens in Erinnerung rufen: gedankliche Unterscheidungen zu treffen, die einen Unterschied machen in der Art und Weise, wie wir die Welt betrachten; wenn wir in den umstrittenen Konflikt- und Diskussionsfeldern die Geltungsansprüche unserer eigenen Urteile und Aussagen einer unablässigen Prüfung unterziehen bezüglich den Universalien Wahrheit, Ethik und Logik. Konkret: Unsere eigenen Beschreibungen können wahr oder falsch sein - hier ist empirisches Faktenwissen gefragt; unsere Werthaltungen können normativ besser oder schlechter begründbar sein - hier ist ethische Reflexion gefragt; und unsere Argumente können analytisch korrekt oder konfus sein - hier ist logisches Grundlagenwissen über die Gültigkeit von Argumenten gefragt. Kritisches Denken als Vorstufe einer widerständigen Praxis: DAS ist das Erbe der Frankfurter Schule.
These 3
Glaubwürdig sind wir in unserem Widerstand, wenn wir uns eingestehen, dass wir in vielen Fällen mit niemandem einverstanden sind – manchmal nicht einmal mit uns selbst.
Und dennoch handlungsfähig bleiben.
Preisgabe zunächst aller vermeintlicher Gewissheiten.
Tägliches Üben im Wachsein, im Bezogen Sein, im Engagement für Andere, im Wachsen über die eigenen Ich-Grenzen hinaus – ins Unbekannte.
Ohne Letztbegründungen.
Ohne Leitplanken.
Ohne Sicherheitsgarantien.
Ohne Kontrolle darüber, welche Effekte sich aus unserem Handeln tatsächlich ergeben.
Antonio Gramsci ist oft zitiert worden: Pessimismus der Intelligenz, Optimismus des Willens. Er starb mit 46 im Gefängnis von Mussolinis Italien und seine Formel gilt als Monument der Glaubwürdigkeit darin, das Unheil der Welt und das Ringen um ihre Veränderbarkeit abzubilden. Mit Christina Thürmer-Rohr gesprochen geht es darum, unsere dissidenten Energien in dieser verworrenen Welt zu manifestieren. Nicht einverstanden zu sein mit einem Geschichts-, Gesellschafts- und Menschenbild, das uns unablässig Trümmer vor die Füsse schleudert, während wir – wie der Engel der Geschichte bei Walter Benjamin – unaufhaltsam von einem Sturm in die Zukunft getrieben werden, der wir blind den Rücken kehren, während der Trümmerhaufen vor uns zum Himmel wächst. Für Walter Benjamin war das, was wir Fortschritt nennen, dieser Sturm. Widerstand heute speist sich aus der Idee, dass diese Form von Fortschritt selbstzerstörerisch ist.
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