Süssigkeiten retten Leben
Aus dem Podcast «5 Minuten» von Nicolas Lindt.
Der Satz will mir nicht aus dem Kopf. Und ich begreife noch immer nicht, wie ein humanistisch gebildeter Mensch einen solchen Satz aussprechen, wie er ihn nur schon denken kann. Und ich begreife ebensowenig, warum derjenige, der die Aussage hörte, nicht das unmittelbare Bedürfnis hatte, zu reagieren, warum er es nicht für notwendig hielt, diesen Satz in seiner ganzen erschreckenden Dimension in Frage zu stellen.
Ausgesprochen hat den Satz vor einigen Tagen NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, ein Mann von Rang und Namen. In einem Interview mit einer Schweizer Zeitung, die früher einmal als die angesehenste Zeitung des Landes galt, wurde der NATO-Chef zum Krieg in der Ukraine und zur Rolle der Schweiz befragt.
Worum geht es konkret? Der Westen erwartet von uns, dass Munition aus der Schweiz an die Ukraine geliefert werden darf. Damit die Ukraine mehr Munition gegen die Russen hat. Bisher hat die Schweiz dies verweigert, mit dem Verweis auf ihre Neutralität. Aber die pro-ukrainischen, anti-russischen Stimmen in unserem Land befürworten eine Weitergabe der Munition. Die Schweiz müsse Partei ergreifen. Diese Kräfte finden sogar, die Schweiz müsste von sich aus Munition liefern. Vielleicht sogar Waffen? Und deshalb fragt der Interviewer, der offensichtlich auch zu diesen Kräften gehört, den Generalsekretär:
Haben Sie Verständnis dafür, dass die Schweiz die Weitergabe der Munition blockiert?
Natürlich hat Stoltenberg kein Verständnis dafür. Aber er sagt noch mehr. Er, der von der Zeitung beschrieben wird als «besonnen» und «unaufgeregt», sagt wörtlich:
«Schweizer Munition kann jeden Tag Leben in der Ukraine retten.»
Das hat er gesagt. Der besonnnene, kultivierte Herr Stoltenberg hätte seine Aussage relativieren können. Aber er hat es gesagt, einfach so, und der Interviewer hat es einfach so stehen lassen, und dann haben sie weitergeredet.
Schweizer Munition rettet Leben. Dieser Satz kommt mir etwa so vor, als würde ich sagen: Süssigkeiten fördern die Gesundheit des Kindes. Je mehr Zuckerzeug für ein Kind, desto besser. Und ich würde erklären, wie ich das meine: Je mehr Süssigkeiten ein Kind konsumiert, um so glücklicher ist es. Und glückliche Kinder sind gesündere Kinder.
Jeder vernünftige Mensch würde denken: Das ist doch absurd. Wie kann man die Dinge nur so verdrehen? Jedermann würde vermuten, dass ich Aktien bei einem Süssigkeitenhersteller habe. Denn je mehr Zuckerwaren die Kinder bekommen, umso mehr steigen die Aktien der Firma. Umso glücklicher werden die Kinder. Und um so süchtiger.
Süssigkeiten machen Kinder gesund. Obwohl jeder weiss, dass Süssigkeiten in grosser Zahl schädlich sind. Schweizer Munition rettet Leben. Obwohl jeder weiss, dass Munition tötet.
Aber auch der NATO-Chef hat Aktien beim Zuckerwarenhersteller. Auch Stoltenberg will, dass mehr Süssigkeiten geliefert werden – dass der Krieg weitergeht. Bis die Russen kapitulieren. Damit es keinen Kompromiss gibt, der auch ihre Interessen berücksichtigt. Damit allein der Westen diktieren kann, wie der Friede aussehen wird.
Deshalb muss die Schweiz ihre Süssigkeiten an die Ukraine freigeben. Ist doch klar. Süssigkeiten retten Leben. Süssigkeiten machen die Ukrainer glücklicher. Und glückliche Ukrainer können mehr Russen töten. Ich bin kein zynischer Mensch. Aber manchmal brauchen Schreibtischtäter wie Stoltenberg eine Antwort in ihrer Sprache.
von:
Über
Nicolas Lindt
Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.
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