«Und nun frisch gewagt!» – Meine allererste Kolumne

Als ich mich in die Welt verliebte – Chronik einer Leidenschaft #4

(Collage: zVg)

Kann man sich in die Welt verlieben? Unser Autor Nicolas Lindt hat zurückgeblickt auf die späten 60er Jahre, als er die Welt immer mehr zu entdecken begann, und er stellt fest: Es war Liebe auf den ersten Blick. Sein Weg, diese Liebe zu leben, war das Schreiben. Anhand seiner Texte erzählt Nicolas Lindt die Geschichte seiner Bewusstwerdung: Ein Zeitdokument für alle, die damals jung waren – und für alle, die heute jung sind und wissen möchten, wie die Welt vor 50 Jahren erlebt werden konnte.
In Folge 3 schilderte Lindt, wie er Radio Beromünster bekehren wollte – und wie er das Schreiben entdeckte.



Meine Eltern waren die ersten Leser meiner Geschichten. Als Elfjähriger gründete ich eine Schülerzeitung, die «Klassenpost», die ich fast im Alleingang schrieb und herausgab. Mit zwölf erschien mein erster Zeitungsartikel: Ich durfte über das jährliche Kerzenziehen im Kirchgemeindehaus schreiben.

Und dann, eines Tages Ende Mai 1968 – ich war gerade 14 geworden – hatte ich mein Thema gefunden. Und das kam so. Ein gutes Jahr nach dem Debakel rund um die Rolling Stones wurde im Hallenstadion ein «Monsterkonzert» veranstaltet. Angekündigt waren diesmal gleich mehrere grossgewordene Bands: John Mayalls Bluesbreakers, The Traffic, Eric Burdon & the Animals und als Höhepunkt ein Auftritt von Jimi Hendrix, der zu jener Zeit gerade kometenhaft aufstieg.

Als inzwischen frischgebackener Handelsschüler in Zürich – «frischgebacken» trifft es ziemlich genau – brauchte ich für den Besuch des Konzerts keine elterliche Erlaubnis mehr. Ich tat mich mit Franklin zusammen, einem englischstämmigen Mitschüler, der mir den Vorschlag machte, wir könnten schon früher zum Stadion gehen. Er hoffte, beim Hintereingang einen der Musiker anzutreffen und ein paar Worte mit ihm auf Englisch zu wechseln.

Wir hatten uns kaum beim hinteren Eingang postiert, als die Tür aufging und kein Geringerer als Jimi Hendrix erschien, der sich wahrscheinlich die Bühne hatte ansehen wollen. Franklin zögerte nicht, sprach ihn auf Englisch an und bat um ein Autogramm. Weil er aber vergessen hatte, Stift und Papier bei sich zu haben, streckte er dem Star seinen Unterarm hin. Worauf Jimi Hendrix, ebenso kurzentschlossen, seine Unterschrift auf die nackte Haut meines Mitschülers kritzelte.
Nach dem Konzert liess Franklin seinen Unterarm mehrere Wochen lang ungewaschen. Damit jedermann sehen konnte, wem er leibhaftig begegnet war.

Auch ich hätte meinen Unterarm hinhalten können. Aber das interessierte mich nicht. Ich wollte kein Fan sein. Ich wollte nicht andere Künstler bewundern, sondern selber schöpferisch tätig sein. Um ein Autogramm habe ich zeit meines Lebens niemanden je gebeten.

Ich wollte dafür etwas anderes. Nach dem Konzert von Jimi Hendrix und den anderen Bands wünschte ich mir, ich könnte darüber schreiben. Öffentlich. Die neue Musik, die mich auf magische Weise berührt und verzaubert hatte, musste mein Thema werden. Ihr wollte ich mein Schreibtalent widmen. Für junge Leser wollte ich schreiben, für Gleichgesinnte, für die Leute meiner Generation. Die Funken aus dem Feuer meiner Begeisterung sollten auch ihre Herzen entzünden.

Es gab damals neben der «Schweizer Illustrierten» die etwas anspruchsvollere «WOCHE», die meine Eltern abonniert hatten. Ich wandte mich an die Redaktion und machte sie darauf aufmerksam, dass in ihren Spalten eine Rubrik über Popmusik fehle. Diesem Mangel würde ich gerne abhelfen. Mein kecker Brief führte am 7.8.1968 zu folgender Antwort:

«Lieber Nicolas Lindt, als Betreuerin der «Woche notiert»-Rubrik habe ich Ihren Brief zur Beantwortung bekommen. Zuerst danken wir Ihnen für Ihre anerkennenden Worte, die Sie der WOCHE widmen. Es freut uns immer, wenn auch Jugendliche unseren speziellen Stil zu schätzen wissen.

Eine ganze Jugendseite haben wir nicht im Programm; hingegen möchte ich im Rahmen der ‹Woche notiert› einen Versuch mit Ihrer Mitarbeit unternehmen, indem ich abwechselnd mit dem «Discorama» und dem ‹Jazzcorner› Ihren ‹Pop Corner› einbaue, der besonders die Jugend ansprechen soll. Und nun frisch gewagt! Falls Sie ein Bild von sich haben, auf der Sie ein fröhliches Gesicht machen, dann schicken Sie es mir auch.»
Mit freundlichen Grüssen
Rosemarie Winterberg
Redaktion ‹Die Woche›»

Frau Winterbergs Antwort, mit der ich recht selbstbewusst durchaus gerechnet hatte, öffnete mir die Tür zu den ersten Leserinnen und Lesern. Den Namen für meine Kolumne schlug ich gleich selber vor.

«Unter dem Titel Nicks Pop-Corner», so kündigte die Redaktion die neue Rubrik an, «wird sich von nun an alle drei Wochen unser 15jähriger Mitarbeiter Nicolas Lindt mit Meldungen und Platten befassen, die vor allem unsere jugendlichen Leser interessieren.»

Weil die zuständige Redaktorin meine 14 Jahre offenbar doch etwas jung fand, machte sie mich ein Jahr älter. Das ärgerte mich, denn erstens stimmte es nicht, und zweitens war ich recht stolz darauf, schon im zarten Alter von 14 Jahren für eine grosse Schweizer Illustrierte schreiben zu dürfen.

Noch im gleichen Monat, am 28. August 1968 erschien meine erste Kolumne. Sie erschien nur wenige Tage nach dem Einmarsch der Russen in der Tschechoslowakei und dem Ende des «Prager Frühlings». Die sowjetische Okkupation liess mich sicher nicht unberührt. Doch verständlicherweise konzentrierte sich meine ganze Vorfreude auf meinen ersten Schritt in die Welt der Medien.

Mein erster «Popcorner» galt einer Band, deren Musik mich heute noch treu begleitet – The Kinks. Ich schrieb:

«Dass sie zu den bekanntesten englischen Gruppen gehören, beweisen sie auch mit ihrer neuesten Produktion, die sich zweifellos an ihre früheren Erfolge anschliesst: ‹Days› ist im typischen Kinks-Stil gehalten – leicht, rhythmisch und doch melodiös. Wie immer ist Leadsänger Ray Davies der Komponist des Liedes, und wenn diese Platte Erfolg hat, ist das vor allem ihm zuzuschreiben.»

Damals zeichnete sich bereits ab, dass Ray Davies einer der überragendsten Musiker jener Zeit werden sollte und im gleichen Atemzug mit den Beatles und den Rolling Stones genannt werden muss.  «Days» ist nur einer von unzähligen Songs der «Kinks», die uns heute noch auf allen Kanälen begegnen. Inzwischen ist Ray Davies bald 80jährig und eine Tournee, wie sie die Rolling Stones noch immer bewältigen, würde ihn wohl zu sehr anstrengen. Doch im Unterschied zu den Stones, die sich fast ganz auf ihre musikalischen Meilensteine beschränken, hat sich Davies nie auf den Lorbeeren ausgeruht. Vor nicht langer Zeit ist wieder ein Soloalbum mit wunderbaren neuen Kompositionen erschienen. Wird es das letzte gewesen sein? Er widmete es dem Traum von Amerika – obwohl er stets durch und durch Engländer blieb.

Ich stelle fest, während ich diese Zeilen verfasse, dass ich eigentlich nur ergänze, was ich 1968 über Ray Davies schrieb – als würde nicht ein halbes Jahrhundert dazwischen liegen. So relativ ist die Zeit. Ich habe auch nicht das Gefühl, dass ich damals ein anderer war. Ich bin noch immer derselbe wie jener 14jährige, der seine erste veröffentlichte Kolumne mit Stolz in ein Heft einklebte und daneben notierte: «Honorar: 25 Franken.»

«Monsterkonzert» 1968 im Hallenstadtion Zürich, Archiv SRF

Archivperlen von SRF von 1968: «Monsterkonzert» mit Jimi Hendrix


Folge 5 am nächsten Sonntag: «Das Schweizer Fernsehen entdeckt die Farbe»

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Über

Nicolas Lindt

Submitted by admin on Di, 11/17/2020 - 00:36

 

Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.

Bücher von Nicolas Lindt

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