Wie ich Radio Beromünster bekehren wollte und das Schreiben entdeckte
Als ich mich in die Welt verliebte – Chronik einer Leidenschaft #3
Kann man sich in die Welt verlieben? Unser Autor Nicolas Lindt hat zurückgeblickt auf die späten 60er Jahre, als er die Welt zu entdecken begann und stellt fest: Es war Liebe auf den ersten Blick. Sein Weg, diese Liebe zu leben, war das Schreiben. Anhand seiner Texte erzählt Nicolas Lindt die Geschichte seiner Bewusstwerdung: ein Zeitdokument für alle, die damals jung waren – und für alle, die heute jung sind und wissen möchten, wie die Welt vor 50 Jahren erlebt werden konnte.
In den Folgen 1 und 2 schilderte Lindt, wie die neue Musik in sein Leben trat und wie er im Zürcher Hallenstadion für 13.20 CHF die Rolling Stones sah.
Für mich entdeckt hatte ich die Rolling Stones lange vor ihrem Konzert in Zürich – und dazu beigetragen hatte der Montagabend um 18 Uhr. Dann lief einmal pro Woche im Schweizer Radio Beromünster eine Beatmusiksendung. Es war die einzige. Während die Radiostationen im Ausland die neuen, elektrisierenden Sounds aus England bereits täglich und stündlich über den Äther sandten, nahm es das Schweizer Radio gemütlich. Eine Stunde pro Woche musste genügen.
Diese kostbare Stunde aber verpasste ich nie. Montag für Montag fand ich mich vor dem Radio im Wohnzimmer ein, den unwiderstehlichen Klängen entgegenfiebernd. In der Hand hielt ich das Mikrofon meines Kassettenrecorders, den ich zum Geburtstag erhalten hatte, um sogleich auf die Aufnahmetaste zu drücken, wenn der Moderator der Sendung, Albert Werner, eine weitere Neuerscheinung ankündigte. Wehe, er redete noch, wenn das Stück schon begonnen hatte!
Eines Tages musste ich ihm meine Begeisterung einfach mitteilen:
«Zu ‹Sali mitenand› kann ich Ihnen nur gratulieren. Sie ist die eindeutig beste Sendung, die man auf allen Wellenbereichen bekommt.» Und für mich eher untypisch, fügte ich bescheiden hinzu: «Wenigstens bin ich dieser Meinung.»
Doch so genügsam, wie ich mich gab, blieb ich nicht. Mit den ersten Beatmusikklängen am Schweizer Radio wuchs mein Hunger nach mehr. Ich war überzeugt, dass die Beatmusik eine grosse Zukunft hatte. In mein Tagebuch schrieb ich:
«Mitschüler haben mir schon gesagt, die Beatmusik werde wieder verschwinden. Ich will nicht sagen, ich verstehe mehr davon als sie, aber der Beat verschwindet bestimmt nicht. Er wird sich nur ändern.»
Am 23. Juli 1967 verfasste ich einen weiteren Brief. Diesmal an die Unterhaltungsabteilung von Radio Beromünster:
«Sehr geehrte Herren, ich bin erst 13 1/3 Jahre alt, doch zähle ich mich schon zu den Beatfans. Auf neue Sendungen für Teenager bin ich natürlich gespannt. Ich überlegte mir deshalb, was ich Ihnen vorschlagen könnte. Nun habe ich alles ins Reine geschrieben, und Sie können sich die Sache einmal anschauen. Wie gesagt, es ist nur ein Vorschlag!»
Mein Vorschlag war ein ganzseitiges, auf der Schreibmaschine meiner Eltern getipptes und sehr ernstgemeintes Konzept, das unter dem Titel «Beatkabel» eine tägliche Beatmusiksendung auf Radio Beromünster empfahl. Was ich da so frei heraus formulierte, sollte erst fünfzehn Jahre später, mit der Einführung des Musiksenders DRS 3, Wirklichkeit werden. Doch schon nach wenigen Tagen bekam ich Antwort. Cédric Dumont, Leiter der Abteilung Unterhaltung, schrieb mir:
«Lieber Nicolas, ich danke dir für deine ausführlichen Überlegungen. Wie du sicher einsiehst, müssen wir unsere Sendezeiten für alle Interessen offenhalten und können deshalb nicht immer so grosszügig disponieren, wie wir selber es möchten. Es liegt mir aber ganz persönlich daran, dass bei uns auch die Jungen auf ihre Kosten kommen. So kann ich dir jetzt schon sagen, dass wir ab nächstem Jahr sehr wahrscheinlich eine Hitparade einführen werden.»
Im Januar 1968 wurde die Radiohitparade zum erstenmal ausgestrahlt. Ihre Realisierung betrachtete ich – mit jugendlicher Selbstüberschätzung – auch ein wenig als mein Verdienst. Doch in der Zwischenzeit hatten sich meine musikalischen Vorlieben weiterentwickelt. Ich hörte und liebte Songs, die für die Spitzenplätze der Hitparade chancenlos waren. Nicht etwa, weil sie qualitativ nicht genügt hätten. Sie waren schlicht zu gut für die Hitparade.
Genau solche Musik hätte ich eigentlich selber erschaffen wollen. Seit Mick Jagger in mein Leben getreten war, erträumte mir noch immer ein Leben als Sänger in einer Popband. Ich konnte auch wirklich gut singen, immerhin so gut, dass ich ein paar Jahre vorher im Kinderchor des Radios mitgewirkt hatte.
Aber ich wusste natürlich, dass Singen allein nicht genügte, um in eine Band einzusteigen. Leider hatte ich jeden Versuch, ein Instrument zu erlernen, nach kurzer Zeit wieder abgebrochen. Die Geduld dazu fehlte mir, und ich musste mir eingestehen, dass ich wohl doch kein Musiker werden würde.
Denn es gab etwas anderes. Etwas, das mich heute noch tausendmal mehr inspiriert und erfüllt: das Schreiben. Seit ich gelernt habe, Wörter zu Sätzen und Sätze zu Geschichten zu fügen, ist Schreiben mein Instrument, die Welt zu durchdringen, sie zu verstehen – und mich ihr mitzuteilen. Schon mit 11 verfasste ich ein tägliches Tagebuch. Ich benützte dafür eine Jahresagenda, in der jeder Tag seine eigene Seite hatte.
Im ersten Jahr zählte ich einfach nur auf, was ich jeden Tag machte, was in der Schule angesagt war, was es am Mittag zu essen gab und mit wem ich am Nachmittag spielte. Für aussergewöhnliche Vorkommnisse mussten wenige Sätze genügen. Mehr Platz war dafür auf einer Seite gar nicht vorhanden.
Im zweiten Jahr liess ich immer häufiger weg, was es zu essen gab. Dafür schilderte ich etwas genauer, was ich erlebte. Und ich begann eine Meinung zu formulieren – meine Meinung. Doch damit wuchs auch mein Drang, nicht nur tagebuchartig für mich zu schreiben, sondern ein Publikum zu erreichen.
Es hatte mich immer schon in die Öffentlichkeit gezogen. Eine Zeitlang wollte ich Schauspieler werden. Doch eine Rolle zu lernen und aufzuführen, hätte mich nicht befriedigt. Ich wollte niemanden sonst als mich selber spielen und nicht die Sätze anderer sprechen.
Zuhause und in der Schule, mit meinen Freunden und im Quartier – überall war ich der, der Geschichten erzählte, wahre Geschichten und vor allem erfundene. Ich schilderte sie so ernsthaft, dass alle sie glaubten. Mit dem, was ich sagte und fabulierte, wollte ich meine Zuhörer fesseln. Ich wollte etwas bewirken – und so folgte dem Reden das Schreiben. Das Schreiben nicht nur für mich, sondern für eine Leserschaft. Für ein Publikum.
Gleichzeitig ahnte ich schon, dass ich mit dem, was ich schrieb, etwas Bleibendes schaffen konnte. Weil es gedruckt und veröffentlicht war. Alle konnten es jederzeit lesen. Hinter den Ohren war ich noch grün, doch ich glaubte an mich. Ich glaubte daran, dass ich etwas zu sagen hatte.
Bewusst überlegte ich mir das nicht. Aber ich spürte: Das ist der Weg, den ich gehen will. Nun fehlte bloss noch der mutige Schritt in die Öffentlichkeit. Obwohl ich erst 14 war. Doch das entscheidende Schlüsselerlebnis liess nicht auf sich warten.
Folge 4 am nächsten Sonntag: «Und nun frisch gewagt!» – Meine allererste Kolumne
von:
Über
Nicolas Lindt
Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.
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Der Fünf Minuten-Podcast «Mitten im Leben» von Nicolas Lindt ist als App erhältlich und auch zu finden auf Spotify, iTunes und Audible. Sie enthält über 400 Beiträge – und von Montag bis Freitag kommt täglich eine neue Folge hinzu.
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