Was ist uns wichtiger - unser Smartphone oder unsere Kinder?

Nicht die trotzigen Kinder sind die kleinen Tyrannen in unserem Alltag. Es sind die Smartphones, Tablets & Notebooks. Denn sie ziehen immer mehr Menschen dauerhaft in ihren Bann und zerstören unsere Beziehungen und Gemeinschaften. Gedanken eines Vaters - nicht nur zum Vatertag.

Foto: Ron Lach (C)

Kinder bräuchten aber unsere ungeteilte Aufmerksamkeit und vielfältige Erfahrungen fern aller Bildschirme. Denn wie wir sie bei ihrer Ankunft auf unserer Welt empfangen und begleiten, prägt sie fürs ganze Leben.

Stell dir vor ein Kind kommt zur Welt und es ist niemand zuhause.


Schon das Fernsehen hat den Familienkreis halbiert, aber immerhin sass man (manchmal) noch gemeinsam davor. Mit dem Smartphone erleben Kinder Erwachsene, die ihnen statt der nötigen Zuwendung keine wirkliche Präsenz , sondern eine ständige Abwendung vorleben.
Und dies von allem Anfang an. Scheinbar gibt es die intimen, heiligen Räume zwischen Menschen gar nicht mehr, in denen man die Geräte ausschaltet und weglegt:

  • Dank Anästhesie wird die Geburt schmerzfrei. Die Mutter kann online bleiben und die Welt über das Geschehen informieren, derweil sich das Kind allein ans Licht der Welt kämpft.
  • Kaum eine Mutter macht mehr einen natürlichen Bonding-Prozess durch – spätestens 10 Minuten nach der Geburt ist die Mutter meist wieder online, berichten Hebammen.
  • Mütter sprechen täglich mehr mit ihrem Gerät als mit ihrem Baby, ergab eine Studie in Deutschland.

Was tun, damit die Kinder auch nicht stören beim Surfen und Chatten? Man gibt ihnen einfach auch ein Gerät. Die Kinder lernen so von Beginn an, dass die Bezugspersonen häufig absorbiert sind und suchen die benötigte Zuwendung und Resonanz, ebenso wie ihre Vorbilder, am Bildschirm:

  • Babies sind bereits selber am Smartphone und auch die Tablethalterung an Töpfchen und Kinderwagen ist kein Witz.
  • 2-5 Jährige verbringen mehr Zeit mit Fernsehen als mit Kinderbüchern.
  • Die Lieblings-App der 6-Jährigen ist Facebook.

Bindung und Beziehung kann aber nur im täglichen, ungestörten Zusammensein wachsen. Wenn wir beim Gegenüber wahrnehmen, dass die eigenen Signale erkannt und erwidert werden entsteht ein feiner, immer vielfältigerer Austausch. Wir fühlen den Andern und fühlen uns gefühlt. Nur so erleben kleine Kinder, dass ihre Regungen wahrgenommen, ihre Signale richtig gedeutet und ihre Bedürfnisse erkannt werden. Das Gegenüber bestätigt ihnen auf diese Weise, dass sie selber existieren, auf der Welt angekommen, gehalten, getragen und geborgen sind.

So entstehen Beziehungen – Beziehungen zu Mutter, Vater, weiteren Menschen, der Umgebung, der Welt und letztendlich das wichtigste Fundament für die Lebensfähigkeit eines Menschen: Die Beziehung zu sich selbst.

Dass unsere verbaute, naturferne, bewegungsarme, virtuelle Lebenswelt eine gesunde Entwicklung der Kinder immer mehr gefährdet ist eine neue Herausforderung unserer Zeit, der sich bisher kaum jemand zu widmen scheint. Ein Bewusstsein für kindliche Bedürfnisse zu entwickeln, wäre für unsere Kinder, ja für unsere Zukunft, existenziell. Wir sind gefordert, ihnen gezielt die Lebens- und Lernräume zu schaffen, die sie brauchen – eine Aufgabe, die die Erwachsenen so noch gar nie hatten.

Babys und Kleinkinder müssen ihren Körper erstmal kennenlernen, sich ihm bemächtigen und beginnen ihn zu «bewohnen». Ihre Motorik, ihre Sinne brauchen eine möglichst grosse Vielfalt an Erfahrungen. Je mehr sie die echte, wirkliche Welt betasten, riechen, schmecken und be-greifen können, je besser werden sie hier ankommen und Fuss fassen, sich zufrieden und geborgen fühlen.

Bildschirmmedien sind dazu gänzlich ungeeignet. Wir entkörpern davor, das Bewusstsein für unsere Glieder und die Orientierung wo wir sind schwindet. Das Streicheln eines Touch-Screens führt zu noch mehr Desorientierung bei kleinen Kindern.

Smartphones lassen sich ausschalten, weglegen und können warten. Kinder nicht – und sollen es auch nicht lernen müssen.

Erwachsene verpassen ihr Leben vor dem Bildschirm. Kinder verspielen Entwicklungspotenzial und damit ihre Lebensperspektiven. Online-Sucht ist bei den 14-Jährigen bereits die häufigste Sucht, noch vor Alkoholkonsum und Rauchen.

Es spricht also nichts dafür, dass Kinder möglichst früh in den Kontakt mit Bildschirmen kommen. Wir Erwachsene haben die Aufgabe, unseren Kindern auf dieser Welt einen gebührenden Empfang zu bereiten. Sie dankbar, respektvoll und mit viel Zuwendung zu begleiten. Dazu benötigen wir viel ungestörte Zeit und unsere volle Präsenz. Die gemeinsame Zeit soll von den Störungen der Geräte befreit sein und den Kindern vielfältige Beschäftigungen und Erfahrungen fern aller Bildschirme ermöglichen.

Smartphones lassen sich ausschalten, weglegen und sie können gut warten. Kinder können das alles nicht und sollen es auch nicht lernen müssen.


Christian Wirz *1967, verheiratet, Vater von 2 Söhnen. Langjährige Berufserfahrung als Primarlehrer, Jugendarbeiter, Fachperson und Mediator zu Jugendgewalt und Rassismus. Aktuell tätig als Hausmann/Vater und Geschäftsleiter des Vereins «MenschenBildung-Kindern begegnen", ein Kompetenzzentrum für kindgerechte Pädagogik und Schule, das sich seit 1974 mit Weiterbildungen, Tagungen und Fachliteratur für eine kindgerechte Schule engagiert: www.menschenbildung.ch

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Über

Christian Wirz

Submitted by cld on Mi, 07/05/2023 - 13:59

Christian Wirz, *1967, verheiratet, Vater von 2 Söhnen. Beruflich bisher in verschiedenen pädagogischen Bereichen tätig: Als Primarlehrer, Jugendarbeiter, Fachperson und Mediator zu Jugendgewalt und Rassismus. Aktuell Hausmann und Vater, Geschäftsleiter des Vereins «MenschenBildung – Kindern begegnen» und freier pädagogischer Berater.

(+41) 033 534 3

Kommentare

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