Aus dem Podcast «5 Minuten» von Nicolas Lindt.

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Jede Zeit hat ihren Zeitgeist, und jeder Zeitgeist hat seine eigene Sprache, seine eigenen Wörter. Es sind Wörter, die es meistens schon vorher gab, aber der Zeitgeist macht sie auf einmal wichtig. Das Wort «nachhaltig» zum Beispiel gab es schon immer, aber auf einmal musste alles nachhaltig sein, alles musste nachhaltig produziert, nachhaltig entsorgt, nachhaltig organisiert sein. Inzwischen kann sich schon lange niemand mehr leisten, irgendetwas zu tun, das nicht nachhaltig ist, und deshalb steht das Wort auch auf jeder Verpackung. Ich selber habe nicht sofort begriffen, was nachhaltig heisst, und auch seit ich es weiss, werde ich mit diesem Wort nicht warm. Es ist ein pädagogisches Wort, ein Wort mit dem Zeigefinger, und das widerstrebt mir.

Etwas später produzierte der Zeitgeist ein weiteres Trendwort, das wie so viele Begriffe aus dem Englischen stammt: das Framing. Auch hier hatte ich zunächst keine Ahnung, was es bedeutet, und ich musste tatsächlich auf Wikipedia nachschauen. Da las ich, dass Framing von Frame kommt, was auf Deutsch Rahmen bedeutet. Mit Framing ist deshalb das Einrahmen oder Einbetten eines Sachverhaltes in ein bestimmtes Bedeutungsumfeld gemeint. Diese Erklärung hat mich auch nicht klüger gemacht, im Gegenteil, Wikipedia hätte mir auch das Einbetten eines Sachverhaltes in ein bestimmtes Bedeutungsumfeld erklären müssen. Und obwohl ich nun immer wieder von Framing lese, könnte ich das Wort immer noch nicht verwenden. Es fühlt sich ungelenk an, wie ein Puzzleteil, das nicht passt. Aber es tönt so wichtig, nur schon, weil es vom Englischen kommt, und wer es braucht, muss ein akademisch geschulter Mensch sein, der mit solchen Begriffen umgehen kann.

Inzwischen hat sich noch so ein Wort in sämtlichen Medien verbreitet: das Narrativ. Es ist eine Wortschöpfung aus dem Englischen, die es noch nicht lange gibt, aber auf einmal brauchen alle das Wort, als habe es immer schon existiert. Es kommt aus dem Englischen von «to narrate» (erzählen) – und offenbar geht es darum, mit welcher Absicht etwas erzählt wird. Aber auch da endet mein Verständnis bereits, und ich meine das nicht ironisch. Obwohl ich mein Leben lang mit der Sprache gearbeitet habe, komme ich auch an dieses Wort nicht recht heran. Das Narrativ narrt mich. Sobald ich es festhalten möchte, entzieht es sich mir.

Diese Wörter jedoch sind vergleichsweise harmlos. Weniger harmlos ist eine andere Ausgeburt, die der Zeitgeist hervorgebracht hat. Das Wort, über das ich eines Tages gestolpert bin, heisst Einordnen. Auch hier wieder derselbe Effekt: Plötzlich war es da und seither wird überall eingeordnet. Und es ist auch bezeichnend für dieses Wort, wer da einordnet:

Wie sieht es in der Ukraine aus? Zwei Experten und eine Expertin ordnen ein.

Alles, was du zum Taiwan-Konflikt wissen musst. Experten ordnen ein.

Sofort impfen oder auf den neuen Omikron-Impfstoff warten? Experten ordnen ein.

Normale Menschen, schliesse ich daraus, können nicht einordnen. Denn einordnen – das verstehe auch ich – bedeutet, etwas in den Zusammenhang stellen. Dazu braucht es offensichtlich Experten. Nur Experten können etwas einordnen. Ich habe noch nie gelesen: Unsere Leser ordnen ein, oder unsere Zuschauer ordnen ein oder der Bauer, dem die Kühe gehören, ordnet ein, oder der Elektriker, der den Schaden behoben hat, ordnet ein, oder die Mutter von drei Kindern ordnet ein. Denn Einordnen bedeutet eben nicht einfach, etwas besser verständlich zu machen, sondern etwas richtig verständlich zu machen. Also geht es nicht um die von uns empfundene Ordnung der Dinge, sondern es geht um die richtige Ordnung, und die richtige Ordnung – das haben wir in den letzten zwei Jahren zur Genüge erlebt – wird bestimmt von den Politikern, von den Behörden, und natürlich von den Experten, die im Auftrag dieser Behörden arbeiten.

Menschen wie du und ich sind offensichtlich zu dumm dafür, das Geschehene zu verstehen. Also muss man es ihnen erklären, weil sie es sonst nicht verstehen können, weil sie es nicht richtig verstehen können. Und mit dem richtigen Verständnis ist im Grunde gemeint: das richtige Denken. Menschen wie du und ich haben möglicherweise ein falsches Denken. Also muss man ihnen helfen, richtig zu denken. Indem man das Geschehene für sie einordnet, möchte man im Grunde sie selbst einordnen. Man möchte sie in die Ordnung zwingen, und man schickt die Experten voraus.

Die Experten sind wie der Doktor, der uns die richtige Pille gibt, damit es uns wieder besser geht, damit wir wieder mitmachen und wieder verstanden haben, was wir verstehen sollen. Dann sind wir wieder ein Teil der Ordnung, dann sind wir eingeordnet.

Hinter der Einordnung steckt nicht nur Arroganz, dahinter steht ein Kalkül, ein Machtkalkül. Deshalb ist das Wort kein neutrales Wort, es ist ein missbrauchtes Wort, ein einschüchterndes, ideologisches Wort, und selbst wenn es in guter, ehrlicher Absicht verwendet wird, kann ich die Drohgebärde, die mit ihm verbunden ist, nicht vergessen, und alles in mir sperrt sich gegen das Wort.  Ich will mich nicht einordnen lassen, ich kann die Dinge in meine eigene Ordnung einordnen. Ich kann selber denken.

Dieser Text erschien im Podcast «5 Minuten» von Nicolas Lindt - Gedanken, Beobachtungen, Geschichten - täglich von Montag bis Freitag auf Spotify, iTunes oder auf der Website des Autors www.dieluftpost.ch

Über

Nicolas Lindt

Submitted by admin on Di, 11/17/2020 - 00:36

 

Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.

Bücher von Nicolas Lindt

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