Wie halten Sie's mit der Neutralität? (8)

«Klarer Aufruf zur Deeskalation, Hand bieten zum konstruktiven Gespräch, humanitäre Hilfe leisten - sich aber nicht am Konflikt beteiligen, indem man für eine Seite Partei ergreift.» Wir haben zum Thema Neutralität eine Leserumfrage erstellt. Achter Teil der Antworten.

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Dürfen wir heute noch neutral sein? Oder müssen wir es sogar? Visual: Nicole Maron

Was bedeutet es für Sie heute, neutral zu sein? Was wünschen Sie – oder fordern Sie von der Politik? Dürfen wir uns heraushalten aus Kriegen? Welche politische Haltung finden Sie angebracht – für die Schweiz oder für Deutschland – auch angesichts der ökonomischen Verflechtungen und Bündnisse? Welche Einflussnahme hat ein neutraler Staat heute?

Danke für die vielen, auch kontroversen Antworten, von denen wir auch heute einige veröffentlichen...

Menschliche Würde an oberster Stelle

Neutralität bedeutet für mich als Einzelperson, dass ich es vermeide, Partei für die eine oder die andere Seite zu ergreifen. Würde ich das tun, würde ich die Trennung und Spaltung vorantreiben und damit den Konflikt vertiefen und einer möglichen Einigung entgegen wirken. Zudem würde ich mich damit in den Konflikt hinein begeben und ein Teil davon werden, auch wenn der Konflikt nicht in meinem Umfeld stattfindet. Neutralsein bedeutet aber nicht, dass ich mich mit klaren Aussagen zurückhalten muss. Im Gegenteil! Das wäre Passivität oder Ignoranz. Ich finde es wichtig, auf Unrecht, zum Beispiel in Form von verletzender Wortwahl, Ausgrenzung, Gewaltanwendung oder ähnlichem, hinzuweisen und dies zu verurteilen. Dabei steht für mich die menschliche Würde an oberster Stelle.

Wenn meine sich streitenden Kinder versuchen, mich auf eine Seite zu ziehen, dann tun sie das, weil beide Seiten glauben, sie hätten Recht. Nach meiner Erfahrung liegt die Wahrheit aber meistens irgendwo dazwischen. Also sehe ich meinen Job als Vater darin, neutral zu bleiben und anzuhören was jede Seite meint um dann beiden Seiten ihren jeweiligen Anteil am Streit aufzuweisen. Das ideale Ziel ist es, zusammen mit ihnen einen Lösungsweg aus dem Konflikt heraus zu finden. Natürlich gelingt mir das längst nicht immer auf idealem Niveau, sei es, weil ich mir nicht genügend Zeit nehme oder weil ich nicht alle Hintergründe in Erfahrung bringe. Schön ist es, wenn die Kinder es schaffen, ihren Streit selbst beizulegen, indem sie einen Kompromiss aushandeln oder einsehen, dass sie eine Fünf auch mal gerade sein lassen können, weil sie ihr Ego zurücknehmen.

Letztlich sähe ich es gerne auch bei der Schweizer Neutralität in Bezug zu Konflikten so: Klarer Aufruf zur Deeskalation, Hand bieten zum konstruktiven Gespräch, humanitäre Hilfe leisten - sich aber nicht am Konflikt beteiligen, indem man für eine Seite Partei ergreift. Leider ist es bei Konflikten zwischen Staaten oder Bevölkerungsgruppen ungemein schwieriger, einen Konsens zu finden als bei den eigenen Kindern, da die Sachlage wesentlich komplexer ist und in den allermeisten Fällen eine lange historische Vergangenheit mit hineinspielt. Dafür hat ein Staat wie die Schweiz aber auch einen ganzen Stab von Mitarbeitenden und Experten, den er hinzuziehen kann, während dessen ich zusammen mit meiner Frau den Konflikt der Kinder alleine lösen darf.

Das Schöne an Familie ist, solange sich das System in einigermassen gesunden Bahnen bewegt, dass man sich miteinander verbunden sieht und deshalb bewusst oder unbewusst motiviert ist, den Konflikt beilegen zu wollen. Diese Sichtweise, das Verbundensein miteinander, vermisse ich bei all den Konflikten auf unserer Welt. Soweit ich das mit meiner äusserst beschränkten Sicht erkennen kann, wird in allen Konflikten das Trennende hervorgehoben und nicht nach der gemeinsamen Basis gesucht. Zugleich wird ignoriert, dass jede am Konflikt beteiligte Partei einen eigenen Anteil daran hat, auch wenn dieser in der Vergangenheit liegen mag. 

Staatliche Neutralität hat für mich den Vorteil, dass man von aussen ins Konfliktsystem schauen kann und sich nicht hineinziehen lassen muss. Dies ermöglicht auf Basis ethischer Werte und Mitgefühl sogar, dass man Äusserungen und Handlungen machen kann, die nicht in dieselbe Richtung laufen müssen, wie diejenigen anderer nicht am Konflikt beteiligter Staaten. Schwierig an der Neutralität finde ich, dass ein kleines Land wie die Schweiz auf partnerschaftliche Verhältnisse zu anderen Staaten angewiesen ist und deshalb im politischen Miteinander sehr achtsam sein muss, zumal Neutralität nicht weit verbreitet ist und sich häufig wirtschaftliche Interessen in den Vordergrund drängen. Doch solange die Neutralität konsequent auf einer humanitären Basis steht, die Ethik, Mitgefühl und Versöhnung im Vordergrund sieht, besteht meiner Ansicht nach ein genügend grosser Spielraum, als Staat oder als Einzelperson zu einem Konflikt oder Streit klar Stellung zu beziehen. 

Ralph Stucki


Ein Nachtrag:

Weil nach meiner Erfahrung und Beobachtung immer alle an einem Konflikt beteiligten Parteien ihren Anteil haben, bringt es nichts, nur für eine der Parteien die Stimme zu erheben. Das verschlimmert den Konflikt in jedem Fall. Im Falle des Israel-Palästina-Konfliktes dürfte man als neutrale Instanz darauf hinweisen, dass beide Seiten seit nun bald 4 Generationen der anderen Seite Leid zufügen. Ich verstehe die Wut, die die Palästinenser verspüren. Mir wurde in einem palästinensischen Flüchtlingslager in Amman der Hausschlüssel gezeigt, den die Familie mit auf die Flucht genommen hat, als sie in den frühen 50er Jahren vor den Bulldozern flüchten musste. Das rechtfertigt den Terror und die Gewalt aber nicht, den andere, ebenfalls enteignete und schikanierte Palästinenser seit der israelischen Staatsgründung an Israelis verüben.

Genauso gut verstehe ich das jüdische Bedürfnis nach einem eigenen Staat, nachdem sie Jahrhunderte lang verfolgt wurden und einen Holocaust nur knapp überlebt haben. Das rechtfertigt aber genauso wenig, sich irgendwo auf dem Planeten ein Stück Land geben zu lassen, ohne die dort ansässige Bevölkerung mit in den Prozess einzubeziehen und gemeinsam an einer Lösung zu arbeiten. Stattdessen wurde und wird die verständlicherweise aufsässige Restbevölkerung mit harschen Mitteln klein gehalten. Beide Seiten wollen sich ihr Recht mit Gewalt verschaffen, anstatt dass daran gearbeitet wird, einen auf Mitgefühl basierenden Versöhnungsprozess einzuleiten. 

Im Ukrainekrieg liegt die Sache natürlich wieder anders, wie bei jedem Konflikt auf dieser Welt. Doch die Grundlage ist auch da, dass seit Jahren wenn nicht Jahrzehnten nicht auf Basis von Empathie und Verständnis miteinander geredet wird. Hätte man dies getan, wäre es nicht innerhalb der Ukraine zu einem in den Medien nicht mehr erwähnten Bürgerkrieg gekommen. Dann wäre man mit den separistischen Provinzen an einen Tisch gesessen und hätte zusammen eine Lösung gefunden. Wer weiss, ob es dann Russland noch gewagt hätte, sein Stück des Kuchens abzubekommen.

Wie dem auch sei... Klar ist Russland der eindeutige Aggressor, klar muss die Staatengemeinschaft mit klaren Statements und Sanktionen dem Einhalt gebieten. Doch indem man der Ukraine nun laufend Waffensysteme liefert, wird der Konflikt nicht behoben. Indem man Russland, wie schon seit wohl über 20 Jahren, als den bösen Buben darstellt, wird das Bild nur vereinfacht, es entspricht nicht der vollen Wahrheit. Da ich kein Spezialist in solchen Dingen bin, lasse ich es hierbei bewenden. Das können Konflikt- und Friedensforscher besser im Detail beschreiben.

Ich bin der Überzeugung, dass wir Menschen die Fähigkeit haben, empathisch zu sein, Mitgefühl zu haben und damit das Potenzial in uns tragen, den Weg der Versöhnung zu gehen. Dieser Weg ist schmerzhaft und braucht einen starken Willen – insbesondere dann, wenn Gewalt und Unrecht zigfach und über Generationen stattgefunden hat. Grundlage dafür ist die Einsicht aller am Konflikt beteiligten Parteien, dass jede ihren Anteil am Unrecht, an den Verletzungen oder allgemein am Streit hat. 

Parteinahme würde nur dann funktionieren, wenn sie neutral und ehrlich stattfindet – das heisst, ohne Eigeninteressen oder die Einmischung von Dritten, die im Hintergrund bleiben wollen –und vor allem dann, wenn Partei für alle Seiten ergriffen wird, indem man auf das jeweilige Unrecht und Leid hinweist. Nur ist das dann nicht mehr eine eigentliche Parteinahme. Keiner der heutigen Konflikte lässt sich einfach in Schwarz und Weiss aufteilen, das wird uns nur weisgemacht. Die Vorgeschichte, die zum Konflikt geführt hat, ist viel zu komplex, von unzähligen einzelnen, zudem teils im Hintergrund agierenden, Menschen geschaffen und wurde über eine lange Zeitdauer aufgebaut. Deshalb ist einseitige Parteinahme in keinem Fall friedenstiftend. Daher sehe ich in der Neutralität, die klar auf Unrecht und Humanität hinweist, die einzige Haltung, die langfristig zu Frieden führen kann.

Hoffen wir, dass in den Menschen ein Umdenken stattfinden von Gegeneinander zu Miteinander.

Ralph Stucki

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Bitte schicken Sie uns Ihre Antworten gerne an [email protected] – wir möchten sie auf unserem Infoportal und einige auch im Magazin veröffentlichen. 

Wie halten Sie's mit der Neutralität, Folge 6

Wie halten Sie's mit der Neutralität, Folge 5

Wie halten Sie's mit der Neutralität, Folge 4

Wie halten Sie's mit der Neutralität, Folge 3

Wie halten Sie's mit der Neutralität, Folge 2

Wie halten Sie's mit der Neutralität, Folge 1

22. Januar 2024
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