Aus dem Podcast «5 Minuten» von Nicolas Lindt.

Ich liebe auch den Kaffee nur mit Zucker – geschadet hat es mir nicht. / © Pixabay

Ich gebe es offen zu: Ich liebe Süsses. Ich liebe Süssspeisen in sämtlichen Variationen – Vermicelles mit Schlagrahm, Engadiner Nusstorte, Mandelgipfel, Schwarzwälder Torte und Gugelhopf, und ganz besonders liebe ich dunkle Schokolade. Ich liebe sie so sehr, dass ich sie nie kaufe, weil ich sie immer gleich aufessen würde. Ich liebe Süsses, ich liebe auch den Kaffee nur mit Zucker, und geschadet, so glaube ich, hat es mir nicht. Mein täglicher Zuckergenuss hat mich nie krank gemacht. Und ob es wirklich der Zucker ist, der meinen Zähnen schadet, ist auch nur eine Behauptung. Vielleicht ist die Angst vor Karies viel schädlicher.

Mit meinem täglichen Zuckerkonsum habe ich bestens gelebt. Dennoch wird mir seit vielen Jahren erklärt, wie ungesund dieser Konsum sei, und in letzter Zeit hat sich der Feldzug gegen das Süsse sogar noch verschärft. Ich habe vor mir einen Bericht aus dem Migros-Magazin, und da lese ich unter dem Titel «Tschüss mein Süsser» alle möglichen Argumente, die gegen den Zuckerkonsum und den Zucker sprechen.

Der Bericht ist zwar schon einige Monate alt, aber er hätte genauso gut gestern erscheinen können. Ich habe ihn aufbewahrt, weil er treffend wie kaum ein anderes Beispiel zeigt, wie auch beim Zucker eine selektive, ideologische Wahrnehmung den Blick auf die Wirklichkeit trübt. 

Das beginnt schon mit dem, was ein paar Seiten davor im gleichen Magazin lustvoll und bildlich dargestellt ist – nämlich, wie viele wunderbare Eiscremevarianten es gibt, die man selber kreieren kann.

So viel mir bekannt ist, enthält auch Eiscreme ziemlich viel Zucker – und begebe ich mich in eine Migros-Filiale, was sehe ich? Eine ganze Abteilung, wo nur Zuckerzeug im Angebot ist. Ob es sich nun um Backwerk handelt, ob es Bonbons sind oder ob sich der Zucker in Müslivarianten versteckt: Überall begegne ich Produkten mit Zucker, und diese Produkte müssen offenbar sehr begehrt, sehr beliebt sein. Sonst wäre die Abteilung nicht so gross.

Aber das wird im ganzen Artikel nicht zugegeben. Nur nebenbei wird die Frage gestellt, was an Zucker denn positiv ist? «In gewissen Produkten», lautet die Antwort, «etwa bei Konfitüre oder Sirup ist der beigefügte Zucker wichtig für die Haltbarkeit. Ein wenig Zucker rundet aber auch den Geschmack ab, deshalb fügt man etwa der Tomatensauce eine Prise Zucker bei. Auf diese Weise bindet man nämlich die Säure.»

Mehr steht da nicht. Mit keinem Wort wird anerkannt, wie gern die Menschen das Süsse haben, wie köstlich es ist, etwas Süsses auf der Zunge zergehen zu lassen und wie süchtig geradezu manche Menschen nach Süssem sind. Mit keinem Wort wird gesagt, dass der Zucker die Menschen erfreut, dass er beruhigend wirkt, dass ein Stück Schokolade die Laune verbessert: All das bleibt tabu, als ob es gefährlich wäre, die Wirklichkeit zu beschreiben. Obwohl vielleicht auch die junge Reporterin, die den Artikel geschrieben hat, gerne Süsses mag, obwohl sie vielleicht sogar während des Schreibens ein Kokosmakrönchen genascht hat, oder auch zwei. Doch was die Menschen persönlich empfinden, was sie wirklich empfinden, steht nicht in der Zeitung.

Es kommt noch schlimmer. Um den Argumenten gegen den Zuckerkonsum mehr Bedeutung zu geben, wendet sich der Bericht im Migros-Magazin vertrauensvoll an die Weltgesundheitsorganisation WHO. Auf die Frage: «Wie viel Zucker pro Tag ist okay?» folgt die Antwort: «Als Grenze setzt die WHO 50 Gramm.» Eine Grenze wird festgelegt, und wenn Experten Grenzen setzen, sollte man sich vertrauensvoll daran halten. Eines Tages wird die Grenze möglicherweise zur Vorschrift, und der Zuckerkonsum jedes Menschen wird überprüft. Am besten notiert man sich heute schon, wie viel Zucker man pro Tag zu sich nimmt.

Oder man macht es wie ich und wie glücklicherweise immer noch viele andere Menschen: Ich weiss selber am besten, wieviel Süsses mir guttut. Ich setze mir meine eigenen Grenzen. Auch beim Zucker vertraue ich dem Experten, der ich selber geworden bin. Nicht für die andern. Nur für mich selbst.  

Über

Nicolas Lindt

Submitted by admin on Di, 11/17/2020 - 00:36

 

Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.

Bücher von Nicolas Lindt

...

Der Fünf Minuten-Podcast «Mitten im Leben» von Nicolas Lindt ist als App erhältlich und auch zu finden auf Spotify, iTunes und Audible. Sie enthält über 400 Beiträge – und von Montag bis Freitag kommt täglich eine neue Folge hinzu.

> App für iPhone herunterladen

> App für Android herunterladen

- - - - - - - - -

Kommentare

Wer weiss, wieviel Zucker man zu sich nimmt

von juerg.wyss
Nicolas hat voll recht, jeder sollte am besten wissen, wieviel Süsses er mag. Aber das Problem ist, dass wir sehr viel Nahrung zu uns nehmen, wo wir nie daran denken würden, dass Zucker drin ist. Ketchup zum Beispiel, oder Fertigsuppen, sowieso die meisten Fertigprodukte haben Zucker drin. Coca cola da sagen alle , wie ungesund es ist, weil soviel Zucker drin ist, aber dass in Orangina, Zitro und und und ebenso viel Zucker drin ist, darüber spricht niemand. Also imer schön auf die Zutatenliste schauen, aber Achtung Zucker heisst nicht immer Zucker!