Astrid Lindgren und das Land meiner Träume

Auf meiner Schwedenreise vom letzten Herbst begegnete ich den Schriftstellerinnen aus meiner Kindheit – und einem beklemmenden Gefühl. Aus der Serie «Warum Pippi Langstrumpf keinen Lockdown braucht – allting nu är bra – eine Spurensuche auf vier Fährten». Fährte 1.

Gute Aussichten: der Autor Anreas Beers in Schweden / © Louis Blattmann

Auf meiner Spurensuche durch Südschweden verfolge ich mein seelisches Schwedenbild. Es entstand durch das Lesen der wundervollen Kindergeschichten von Astrid Lindgren und Selma Lagerlöf. Als Kind lag ich oft stundenlang lesend unterm schattigen Apfelbaum. Ich vergass alles: Zeit, Durst, Hunger und Müdigkeit. Ich lebte vollständig in diesen Geschichten und fühlte mich auf wunderbare Weise geborgen und frei.

Hinter mir steht ein alter Leuchtturm, in dessen Spitze ein leuchtender Kristall rotiert. Ich sitze hoch oben auf einer Klippe am äussersten Ende einer schmalen in die Nordsee hineinreichenden Landspitze. Diese liegt an der Westküste Schwedens bei Vässingsö. Die Szenerie, die ich überblicke, hat etwas ruhig Stoisches – verhaltene Bewegung, kurz vor dem Stillstand: die weite blaue See, das durchlichtet kühle Himmelsgewölbe und die mit hellgrünem Moos bedeckten dunklen Klippen.

Ich erlebe Licht, wässrige Erde und Zeitlosigkeit als die prägenden Elemente Schwedens: Die Wolkenbildungen leuchten kühl strahlend im weit gespannten Himmelsraum über mir. Die ganze Natur ist getränkt mit intensiven bunten Farben. Sie duckt sich angeschmiegt an felsig kühle Gründe. Diese flachen, mit weitem Himmel überspannten einsamen Landschaften, hinterlassen in mir stets den Eindruck einer in sich gekehrten Stille.

In ihrem Märchen «Die Wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen», beschreibt die schwedische Autorin Selma Lagerlöf genau diese Szenerien. Über zweihunderttausend Inseln säumen die Küstenregionen Schwedens. Als führe man auf dem Wasser durch einen in Zeitlupe ablaufenden Farbfilm, so empfinde ich die Fahrt durch dieses weite und schöne Land.

Wie aus einem Spielkorb ausgestreut liegen kleinen Gehöfte und Siedlungen einsam in der Landschaft. Astrid Lindgrens Geschichten «Wir Kinder aus Bullerbü» und «Michel aus Löneberga» kommen mir sofort in den Sinn. Alle ihre Geschichten spielen in diesen Geborgenheit ausstrahlenden Dörfern und wundervoll freien Landschaften. Diese Stimmungsbilder sind es auch, die den Grundton meiner Reiseerlebnisse bestimmen. Und doch erlebe ich in diesem Grundton immer wieder die dunkle Färbung eines Albdrucks – ein Gefühl der Beklommenheit, dass irgendetwas nicht stimmt.

«Es war schön, dort Kind zu sein. Warum war es schön? Darüber habe ich oft nachgedacht, und ich glaube, ich weiss es. Zweierlei hatten wir, dass unsere Kindheit zu dem gemacht hat, was sie gewesen ist – Geborgenheit und Freiheit», dies sagte Astrid Lindgren in hohem Alter. Das ganze Leben und Schaffen der schwedischen Autorin ruhte auf diesem Lebensseelengrund. Als Kind badete ich förmlich in dieser Stimmung und ich wäre am liebsten in ihre Geschichten hineingeschlüpft.

«Allting nu är bra?» Zu Deutsch: Alles ist schon gut? Das, glaube ich, stimmt heute nicht mehr ganz. Denn meine Empfindung des Albdrucks – dass etwas Ungutes hinter den Erscheinungen wirkt – hat mich noch nie getäuscht.

 

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Andreas Beers aus Bern ist Landwirt, Arbeitsagoge und Lehrer. Er kultiviert die Erde, sät, pflanzt und erntet, er denkt, spricht und schreibt über: Mensch, Erde und Himmel, oder was wir zum Leben brauchen. Kontakt: [email protected].

«Nun ist es Herbst und die goldenen Vögel fliegen alle heimwärts über tiefblaues Wasser; ich sitze am Ufer und schaue ins prächtige Glitzern derweil Abschied in den Zweigen rauscht». (Aus Klauenspur, Gedichte und Briefe von Edith Södergran)