«Das Buch jagte mich durch die Nacht»
Daniel Michel ist heute 41 Jahre alt, Physiker und Unternehmer – das Wissen dazu fiel auf ihn herunter.
«Ich war eigentlich immer ein sehr schlechter Schüler, vor allem in den mathematischen Fächern, das war meine grosse Schwäche. Man könnte sogar behaupten, dass ich zeitweise der Klassenschlechteste war. Das ist keine Schande, es zu sagen. Eigentlich hatte ich mich mit dem Schicksal abgefunden, dass ich nie etwas Grossartiges erreichen und eher einen einfacheren Job ausüben würde. Ehrlich gesagt war ich an der Schule auch nicht interessiert. Ich hatte keine Lust zu lernen, und abgesehen davon fiel es mir eher schwer.
Eines Tages, es war etwa anfangs achtes Schuljahr, durchstöberte ich zu Hause das Büchergestell im Wohnzimmer, meine Eltern waren weg. Ich suchte mit höchster Wahrscheinlichkeit nicht nach Büchern, denn sie hatten mich nie interessiert. Plötzlich fielen aus Versehen ein paar Bücher herunter. Eines war ein altes und verstaubtes Buch mit dem Titel Trigonometrie. Ich schlug es auf, weil sich der Titel so seltsam anhörte. Ich hatte das Wort Trigonometrie in meinem Leben noch nie gehört.
Es war ein sehr unübliches Mathematikbuch. Auf der ersten Seite sprach es einen an, direkt mit Du – sehr persönlich. Ja, es war, als ob ein Lehrmeister das Wort an einen richtete. Das Buch stellte Fragen, und man hatte stets mehrere Antworten zur Auswahl. Jede Antwort führte einen auf eine andere Seite. Die konnte ganz hinten oder ganz vorne liegen. Es war ein sehr unterhaltsames Buch, höchst amüsant zu lesen: ein völlig unorthodoxer Stil. Es versuchte, die groben Grundzüge der einfachen Mathematik bis hin zur Trigonometrie zu erklären.
Am frühen Morgen hatte ich wohl mehr Mathematik gelernt als in meinem ganzen Leben zuvor.
Dieses Buch faszinierte mich so sehr, dass ich die ganze Nacht darin herumblätterte, bis in die Morgenstunden, ohne Schlaf. Ich wurde von diesem Lehrmeister buchstäblich durchs ganze Werk gejagt. Am frühen Morgen hatte ich wohl mehr Mathematik gelernt als in meinem ganzen Leben zuvor. Auf wundersame Weise hatte das Buch geschafft, mir Wissen zu vermitteln, so wie ich es gebraucht hatte.
Irgendwie löste das Ganze einen grossen Knoten in mir. Darauf schlug ich ein Lexikon auf und las unter dem Begriff Mathematik alles nach, was ich finden konnte. Ein paar Tage später fuhr ich mit dem Postauto in die Stadt Bern und kaufte zwei Mathematikbücher.
Ich stiess unweigerlich auf die alten Griechen. Also schlug ich auch die Griechen nach, um zu schauen, was über sie geschrieben steht. Ich hielt Ausschau nach Sokrates, Platon und Artistoteles – weil sie am häufigsten in den Lexika erwähnt wurden. Kurz darauf kaufte ich ein Buch über die Griechen und ihre Philosophie – und da war's um mich geschehen.
Nach diesen Büchern folgten viele weitere, primär mathematische und philosophische. Dadurch verspürte ich vermehrt das Verlangen, ins Gymnasium einzutreten, um noch mehr Wissen anzuhäufen – so wie es damals die Schüler von Platon an der Akademie konnten. Es fiel mir plötzlich viel leichter zu lernen. Ich erzielte schnell grosse Fortschritte in allen Fächern. Und ich interessierte mich nun sogar sehr für Mathematik!
Als ich meinen Eltern – ich war ja in der Primarschule – mitteilte, dass ich ins Gymnasium gehen möchte, waren sie mehr als erstaunt. Es war ohnehin so, dass ich mit meiner Idee, ins Gymnasium eintreten zu wollen, völlig alleine dastand. Alle meine Freunde, die Eltern, die Lehrer fanden dies eine irrsinnige Idee. Weil: Es war extrem unüblich, nach Abschluss der Primarschule eine akademische Karriere anzustreben.
Nun...mittlerweile habe ich das Gymnasium abgeschlossen. Mehr noch: Danach studierte ich Physik und Mathematik an der Universität Bern und doktorierte in Laserphysik. Heute habe ich ein eigenes Unternehmen, ich braue Bier, zudem entwickle und produziere ich Brauanlagen, die ich weltweit vertreibe. Ohne mein Physikwissen wäre das kaum möglich gewesen.
Möglicherweise wäre ich früher oder später ohnehin auf die naturwissenschaftliche Schiene geraten. Aber der springende Punkt ist: Der Fall dieses Buches aus dem Büchergestell meiner Eltern war ganz klar ein Wendepunkt in meinem Leben. Vielleicht würde ich heute nicht da stehen, wo ich jetzt bin, wenn mir damals dieses Buch nicht vor die Füsse gefallen wäre.»
Aufgezeichnet von Camilla Landbø
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Daniel Michel führt in Herrenschwanden bei Bern die Mikrobrauerei «Danidrinks» und ist Erfinder des Brewtowers, der bereits in über zehn europäischen Ländern im Einsatz ist.
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