Die Crux des Fortschritts
Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück: Ein Lehrstück aus dem afrikanischen Gambia. Kolumne aus dem Podcast «Fünf Minuten» von Nicolas Lindt.
Die Meldung, dass das Verbot der weiblichen Genitalverstümmelung in Gambia wenige Jahre nach seiner Einführung wieder abgeschafft werden soll, ist schockierend. Die Nachricht entrüstet vor allem Frauen, wenn sie sich vorzustellen versuchen, was es bedeutet, diese Tortur am eigenen Körper erleiden zu müssen – wenn sie den physischen Schmerz geradezu spüren, als würde er ihnen selbst angetan. Aber die Nachricht muss auch die Männer betroffen machen.
Noch ist die Aufhebung des Verbots nicht beschlossen, aber eine erdrückende Mehrheit im Parlament des westafrikanischen Staates spricht sich dafür aus, und zu den Ja-Stimmenden gehören auch die fünf Frauen im Parlament. Auch auf der Strasse sind es ebenso Frauen wie Männer, die für die Wiedereinführung der Genitalverstümmelung demonstrieren. Gambia ist zu 90 Prozent muslimisch, und die Beschneidung der Klitoris wird noch immer als muslimische Tradition angesehen. Die Befürworter argumentieren, dass das Verbot ihre religiösen Rechte beeinträchtige. Würde es aufgehoben, wäre Gambia das erste von über 20 afrikanischen Ländern, das die Verstümmelung wieder erlaubt.
2015 hatte Gambia die grausame Praxis verboten. «Sie hat im Islam keinen Platz», erklärte der damals amtierende gambische Präsident. Warum wird ein Fortschritt weniger als zehn Jahre nach seiner Durchsetzung bereits wieder in Frage gestellt? Haben die Gambier ihre Haltung so schnell revidiert?
Sie wurden gar nicht gefragt. Die Regierung hat die Genitalverstümmelung im Alleingang verboten. Sie tat dies vor dem Hintergrund einer Resolution der UNO-Vollversammlung, die drei Jahre vorher «einstimmig» ein weltweites Verbot der Genitalbeschneidung beschlossen hatte. Wie die meisten anderen Beschlüsse der UNO konnte auch diese Resolution die einzelnen Staaten nicht dazu verpflichten, das Verbot umzusetzen. Der Beschluss war eher propagandistisch gedacht – und wird seither begleitet von einer grossangelegten Kampagne in den betroffenen Ländern.
Einheimische Mitarbeiter, engagiert von der UNICEF, dem Kinderhilfswerk der UNO, wurden auch in Gambia aufs Land geschickt, um in den Dörfern Aufklärungsarbeit zu leisten. «Die Rednerinnen» heisst es dazu in einer Broschüre der UNICEF, «schaffen Bewusstsein dafür, dass diese Praktik extrem gefährlich ist und eine Menschenrechtsverletzung darstellt». Die gambischen UNO-Botschafterinnen wenden sich aber nicht nur an Frauen und Mädchen, sondern auch an Dorfälteste und an religiös und politisch Verantwortliche, um auch sie für den Kampf gegen die Verstümmelungsprozedur zu gewinnen. Man darf davon ausgehen, dass auch hier, wie bei anderen UNO-Kampagnen, reichlich Geld fliesst. Mit einem Wort: Wer mitmacht, profitiert.
Natürlich sind die Frauen, die direkt oder indirekt für die UNICEF tätig sind, überzeugt von der Botschaft, die sie ins Land hinaustragen. Die Schmerzen einer Beschneidung haben sie oftmals am eigenen Leib erlitten. Aber Geld schafft nicht nur Arbeitsplätze, sondern auch Loyalität – und deshalb erstaunt es nicht, dass selbst der frühere Präsident Gambias zwar einerseits als Diktator auftrat, Gambia zu einer «islamischen Republik» erklärte und Regimegegner ebenso wie Homosexuelle verfolgte – gleichzeitig aber das Verbot der Klitorisbeschneidung verkündete.
Seither hat die UNO ihre Aufklärungsarbeit im afrikanischen Land mit grosser Wahrscheinlichkeit noch verstärkt. Denn Gambia galt jetzt als ein weiteres afrikanisches und muslimisches Vorzeigeland, das seine frauenfeindliche Tradition überwinden wollte. Das gefiel auch der westlich orientierten Elite des Landes, wie es sie in allen afrikanischen Staaten gibt. In den internationalen Organisationen und überhaupt in der westlichen Öffentlichkeit konnten die progressiv denkenden und höher gebildeten Gambier mit Genugtuung darauf verweisen, dass ihr Land ein immer moderneres, zivilisierteres Land wird.
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Doch einmal mehr hat eine Elite ihre Rechnung ohne das Volk gemacht. Denn die Verstümmelung des weiblichen Körpers ist auch in Gambia nach wie vor weit verbreitet. In den 9 Jahren seit der Einführung des Verbots wurde bisher nur ein einziges Urteil gefällt. Bestraft wurden im letzten Jahr drei «Beschneiderinnen», welche acht kleine Mädchen im Alter zwischen 4 Monaten und einem Jahr, dem Wunsch der Eltern entsprechend, beschnitten hatten. Sie erhielten Bussen von je 200 Franken. Dass es keine grössere Anzahl von Verfahren gab, bedeutet natürlich nicht, dass die Mädchenbeschneidung an Bedeutung verloren hat. Der Brauch wurde einfach illegal praktiziert. Und weil er noch immer so populär und gesellschaftlich anerkannt ist, drang die Stimmung im Volk bis zu den Parlamentariern durch. Das ist die Erklärung dafür, warum die gambischen Abgeordneten ihren Vorstoss verabschiedeten.
Trotz ihrer zweifellos elitären Haltung haben die Volksvertreter gemerkt, dass die Weiterführung der Tradition von der Mehrheit des Volkes – und auch von der Mehrheit der gambischen Frauen – gewünscht wird. Vor allem die Islamisten im Parlament hatten deshalb ein leichtes Spiel, das Beschneidungsverbot in Frage zu stellen. Sollte der neue Präsident, der das letzte Wort hat, am Verbot festhalten wollen, dann täte er es nicht zuletzt aus Rücksicht auf die Meinung und die Köder des Westens. Sollte er die Beschneidung wieder erlauben, dann täte er es aus Rücksicht auf die Islamisten im Land oder weil er selber ein Islamist ist und dem Westen die Stirn bieten will.
Was sagt uns dieser politische Poker um die Verwundung der Frauen in Gambia? Wenn eine Reform oder treffender eine Weltanschauung per Kommando von oben verordnet wird, dann machen die Menschen nicht mit. Dann gehorchen sie zwar und ducken die Köpfe, doch ihr Empfinden bleibt unverändert. Ihr Herz sagt Nein. Und sie flüchten zurück – erst recht – in das vertraute Zuhause der Tradition.
Das muss nicht bedeuten, dass die UNICEF-Arbeit umsonst war. Sie hat bestimmt vielen jungen Frauen die Augen geöffnet und vielen Mädchen erspart, was ihre Mütter erdulden mussten. Doch eine Haltung, die nicht von der Mehrheit des Volkes getragen wird, muss irgendwann scheitern.
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Die Vorstellung, dass Mädchen und Frauen in Gambia weiterhin leiden müssen, dass sie vielleicht sogar wieder heftiger leiden müssen, wenn der Staat die Verstümmelung erlaubt und der Iman sie feierlich segnet – diese Vorstellung ist für Frauen in unseren Breitengraden kaum zu ertragen. Haben wir nicht geglaubt, dass der Fortschritt die Kraft besitzt, die Schwankenden mitzureissen und das einmal eroberte Terrain zu halten? Keinen Fortschritt erreichen zu können, ist schlimm. Doch ein Rückschritt ist hundertmal schlimmer. Denn ein Rückschritt bedeutet, dass der Fortschritt in weite Ferne gerückt scheint.
Ich könnte verstehen, wenn Frauen sagen: Wir dürfen das nicht akzeptieren. Ich könnte verstehen, wenn Gedanken dahingehend geäussert würden, das Beschneidungsverbot im afrikanischen Land zu verteidigen. Politischen Druck aufzusetzen. Westliche Gelder zu streichen. Gambia zum Glück seiner Frauen zu zwingen.
Aber dürfen wir das? Es gibt Menschen, politische Kräfte auf dieser Welt – und wir haben sie während Corona ausgiebig kennengelernt –, die davon träumen, eine Weltregierung in Kraft zu setzen, die weiss, was gut für uns alle ist. Gut für die Frauen, kein Zweifel, wäre ein definitives Verbot der Beschneidung weltweit. Wo immer dann noch ein Land daran festhalten würde, käme sofort die Weltpolizei, um das ungebildete Volk zu zivilisieren.
Wollen wir das? Wollen wir, dass Aussenstehende über uns richten? Ich will es nicht für die Schweiz in Europa, und ich will es auch nicht für ein Land wie Gambia. Ein Land muss selber entscheiden können, welche seiner Werte es hochhält und welche es loslässt. Denn wer weiss am besten, was für ein Land das Richtige ist? Niemand sonst als die Menschen, die darin leben. Andere Länder, andere Sitten: Wir müssen das aushalten. Auch wenn es uns schwerfällt.
Ich bin überzeugt, das gambische Volk wird eines Tages erkennen, dass Mädchenbeschneidung unmenschlich ist. Doch das Bewusstsein dafür muss sich entwickeln können. Wenn die Gambier von uns etwas lernen möchten, sind wir gerne dazu bereit. Dann erklären wir ihnen, wie wir es machen. Aber es könnte auch anders sein. Vielleicht gibt es Aspekte des Lebens, wo wir die Lernenden sind. Wo die Menschen in Gambia uns etwas lehren können.
von:
Über
Nicolas Lindt
Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.
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