Die Geschichtsschreibung macht uns seit 500 Jahren unsichtbar
Die peruanische Anthropologin Iñakapalla Chávez Bermúdez reflektiert anlässlich des Internationalen Frauentags am 8. März, inwiefern das Kunsthandwerk des Webens die gesellschaftliche Rolle der Frau in den Anden bestimmt, und wie sich diese mit der europäischen Invasion verändert hat. Kolumne.
Mit fünf Jahren habe ich weben gelernt. Tante Elsa hat es mir beigebracht, und sie wiederum hatte es von ihrer Mutter gelernt. Es war für mich wie Poesie. Eine minutiöse Tätigkeit, bei der sich Geist und Hände vereinen, um vielfältige Formen zu schaffen, die den Geist der Weberin in sich tragen.
So eignen sich die Frauen in den peruanischen Anden das Weben an. Sie erben es von anderen Frauen. Wenn man webt, ist es, als ob man in eine andere Welt eintaucht und eine Reise in die Vergangenheit antritt. Man verbindet sich all den Frauen, die in den Jahrtausenden vor uns gelebt haben.
Vor 5000 Jahren wurden auf dem Territorium des heutigen Peru die ersten Textilien gewebt, die diese grosse Geschichte begründeten, welche die peruanischen Frauen bis heute mit ihren Ahninnen verbindet. Es waren hervorragende Weberinnen, die dünne Fäden aus Baumwolle sowie Alpaka- und Vikunja-Fasern in rätselhafte Textilien verwandelten, die die Zeit überdauerten und eine Symbolik enthalten, die mit der Gesellschaft jener Zeit verbunden ist.
Bereits in den alten Kulturen vor der Inkazeit hatte das Weben eine grosse soziale, kulturelle, wirtschaftliche und künstlerische Bedeutung. Die Frauen spezialisierten sich auf jeden einzelnen Vorgang der Weberei, vom Spinnen über das Färben mit Naturfarben aus dem Anden- und dem Amazonas-Gebiet, das Weben auf dem Webstuhl, das Sticken oder das Einsetzen von Federn und Perlen. So kam den Frauen in diesen Gesellschaften eine grundlegende Rolle zu und sie wurden geschätzt und respektiert.
Mit der spanischen Invasion im 16. Jahrhundert veränderten sich jedoch der Status und die sozio-politische Funktion der Frauen stark. Auf der Grundlage der neuen, ihnen aufgezwungenen Religion wurden sie als Sünderinnen abgestempelt. Es wurde ihnen sogar verboten zu weben, denn das Weben war ein symbolbeladenes Zeugnis, das die Weltsicht der Inkas beschwor, welches nicht mit dem Katholizismus vereint werden konnte. Doch dieses absurde Verbot hinderte die Frauen nicht daran, in ihren Träumen weiterzuweben, Sterne zu verbinden und sich danach zu sehnen, weiterhin die Hüterinnen des sozialen Gedächtnisses zu sein.
Während der indigenen Revolution gegen das Kolonialsystem im 18. Jahrhundert organisierte eine der Anführerinnen, Tomasa Titto Condemayta, eine Gruppe von Frauen aus der Gegend von Acomayo (Cusco). Sie webten Wiphala-Fahnen, welche die indigene Bewegung repräsentierten, und führten eine mit Stöcken und Steinen bewaffnete Widerstandsarmee an. Daraufhin ergriff die spanische Armee noch grausamere Massnahmen gegen die Frauen, und ordnete die Zerstückelung der Anführerinnen an, darunter auch Tomasa Titto.
Leider spielten Frauen auch in der peruanischen Republik, die 1821 gegründet wurde, keine herausragende Rolle in der neuen demokratischen Gesellschaft. Wir werden von der Geschichtsschreibung seit 500 Jahren unsichtbar gemacht, was sich auch darin zeigt, dass man in Peru bis heute nur über die männlichen Protagonisten der Geschichte spricht. Doch was ist mit der Weberei passiert?
Den Frauen in den Anden und im peruanischen Amazonasgebiet gelang es über die Jahrhunderte, durch das Weben Widerstand zu leisten und die Ikonographie ihrer Vorfahrinnen zu bewahren. Obwohl die Weberei heute als «minderwertiges» Handwerk gilt, weben wir peruanischen Frauen in den indigenen Gemeinschaften weiter, um diesen grossen Traum von Freiheit weiterzuträumen, dass wir eines Tages wieder zu einem grundlegenden Teil einer gewaltfreien Gesellschaft werden.
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Iñakapalla Chávez Bermúdez aus Cusco (Peru) ist Anthropologin und Schriftstellerin. Ihre Kolumnen, Gedichte und dramaturgischen Werke erscheinen in verschiedenen peruanischen Publikationen. Die Schwerpunktthemen der 35-Jährigen sind Kunst und Kultur sowie soziale Themen wie häusliche Gewalt oder Gendergerechtigkeit.
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