Ein Turm für uns alle
Was hat der Turm von Pisa mit der Weltpolitik zu tun? Die Kolumne aus dem Podcast «Fünf Minuten»
Vor einiger Zeit ging ein Bild durch die Medien, über das ich immer noch nachdenken muss. Es vereint zwei Dinge, die irgendwie nicht zusammengehören. Das Bild zeigt eine Palästinenserflagge. Aber die Flagge wird nicht hin- und hergeschwenkt, und sie hängt auch nicht von einem Balkon herab. Sie ist an einem Turm angemacht. An einem ganz besonderen Turm. Am berühmtesten Turm der Welt. Demonstranten haben die palästinensische Fahne am Schiefen Turm von Pisa befestigt.
Was hat der Turm von Pisa mit der Weltpolitik zu tun, war mein erster Gedanke. Und mein zweiter Gedanke wanderte ein paar Jahre zurück zu dem Tag, als ich selber vor diesem aussergewöhnlichen Bauwerk stand. Mit Hunderten von Touristen war der Platz übersät – und einer dieser Touristen war ich. Vor meinen Augen erhob sich der Turm, dessen Bild mich begleitet, seitdem ich als Kind entdeckte, dass es die Welt gibt. Sein Anblick war wirklich schräg. Wie ein missglückter, gefallener Engel stand er zwischen den Kirchenbauten des alten Pisa, und ich wurde den Eindruck nicht los, dass er damals, im 12. Jahrhundert, schon schief konstruiert worden war. Jedenfalls wurde er nur berühmt, weil er schief stand. Würde er so gerade stehen wie andere Türme, käme kein Mensch hierher, um ihn zu sehen.
Wie alle anderen Fremden waren auch wir nur nach Pisa gepilgert, um eine Fehlkonstruktion zu besichtigen. Trotzdem musste ich anerkennen, dass mich der Anblick des unreparierbaren Turms faszinierte, einfach, weil er in seiner Unvollkommenheit so vollkommen war. Amerikanische Collegegirls machten sich einen Spass daraus, vor dem Turm zu posieren und die Hände so in die Luft zu strecken, als würden sie ihn vor dem Kippen bewahren. An den Ständen am Rande des Platzes war der Turm erhältlich in jeder Variante: als schiefe Tasse, schiefe Lampe, schiefes Feuerzeug, schiefes Weinglas. Kein Händler entdeckte die Marktlücke – keiner kam auf die Idee, einen geraden schiefen Turm zu verkaufen.
Die Kolonne bei der Kasse war lang. Alle 20 Minuten vierzig Personen, mehr durften nicht zur gleichen Zeit auf den Turm. Umso erhebender war der Moment, als ich die erste Stufe der Wendeltreppe betrat. Vor mir und hinter mir stiegen Touristen die Treppe hinauf, aber das störte mich nicht. Das schöne Gefühl, in der Weltgeschichte angekommen zu sein, war stärker.
Von den vielen Millionen Schuhabdrücken aus den Jahren und Jahrhunderten vor mir war der Stein der Stufen ganz ausgehöhlt. Das Mauerwerk, das mich umgab, fühlte sich fest und unerschütterlich an, doch die Schiefe des Turms war bei jedem Schritt spürbar. Die Treppe senkte und hob sich wie das Schwanken auf Deck eines Schiffes. Das Gefühl eines leichten Taumelns stellte sich ein, je höher ich stieg – gefolgt von Erleichterung, als die letzte Stufe hinter mir lag.
Ich trat auf die Plattform hinaus und spürte auch jetzt die sanfte Störung des Gleichgewichts. Doch die leise Befürchtung, die Schräge des Bodens könnte sich in ein träges, unaufhaltsames, langsames Kippen und Stürzen verwandeln, beruhigte sich durch die wunderbare Erkenntnis, wo ich mich hier befand. Ich stand auf dem Schiefen Turm von Pisa.
Beeindruckt und nicht ohne Ehrfurcht blickte ich um mich. Ich sah die Stadt, die Ebenen der Toskana, ich sah das Touristengewimnmel weit unter mir – und ich griff nach der Kamera, so wie alle, die gerade dasselbe hier oben erlebten wie ich.
Diesen Moment mussten wir festhalten. Wir halfen uns gegenseitig mit Fotografieren. Die Kolumbianerin übernahm es, die Deutsche und ihre Tochter aufs Bild zu bannen, der Holländer lichtete die Familie aus Singapur ab, der Mann aus Indien knipste Gattin und Sohn, die Studentin aus Schweden verewigte mich, während ich ein spanisch-französisches Pärchen ins Bild nahm. Mit ihnen allen stand ich zuoberst auf diesem Turm, der als Weltkulturerbe gilt. Ich bereute es nicht, den Preis für den Eintritt bezahlt zu haben. Weil wir uns alle da oben in diesem Moment nicht getrennt erlebten, sondern verbunden.
Wenn deshalb Menschen vor dem Schiefen Turm demonstrieren, wenn sie die Flagge von Palästina an den verwitterten Mauern befestigen, dann möchten sie damit sagen, dass diese Flagge für eine Tragödie steht, die nicht nur die Beteiligten etwas angeht. Sondern uns alle. Der Schiefe Turm von Pisa erinnert uns an die Gemeinsamkeit unseres Menschseins. Das ist der wahre Grund für seine Berühmtheit.
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von:
Über
Nicolas Lindt
Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.
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