Antigone im Amazonas: «Lernen, nein zu sagen»

Nach diesem Theaterabend wollte man nicht schlafengehen. Man wollte zusammenbleiben und reden. Die Figuren der antiken Tragödie vermischten sich mit dem Schrei der Erde, des Regenwaldes und seiner Bewohner: Lasst uns endlich in Ruhe! Findet eure eigene Wurzeln, findet euer Gewissen wieder!

Szenenbild

Diese Antigone war aufrüttelnd: nicht unbedingt wegen der Theaterqualität, sondern wegen der Inbrunst der Darsteller und der Aktualität des Themas. Der Schweizer Regisseur Milo Rau inszenierte die antike Tragödie gemeinsam mit der brasilianischen Landlosenbewegung MST – und hatte mit den Darstellern und Aktivisten einen Monat lang zusammen im Regenwald von Pará verbracht. Im Wiener Burgtheater feierte er vor einer Woche Premiere.

Was tue ich, wenn mein Gewissen mir etwas anderes gebietet als der Mainstream?

Antigones Frage ist heute so aktuell wie vor 2500 Jahren: Was tue ich, wenn mein Gewissen mir etwas anderes gebietet als der Mainstream? Soll ich der inneren Stimme folgen – selbst wenn es Ausgrenzung, Gecancelt-Werden, ja Tod nach sich zieht? 

Die Antigone in Sophokles´ antiker Tragödie hat ihre Wahl getroffen: Gegen das Verbot des Herrschers Kreon folgt sie dem Gebot der Götter und ihres Herzens. Sie beweint und bestattet ihren erschlagenen Bruder. Damit geht sie in den Tod – ihr folgen ihr Verlobter, dessen Mutter und fast der Herrscher, der schliesslich seine Strenge bereut. 

Geht endlich weg!

Die «Antigone im Amazonas» wird von einer indigenen Aktivistin gespielt. Kay Sara steht aber nicht auf der Bühne des Burgtheaters – überhaupt sind nur vier Schauspieler live zu sehen. Alle anderen spielen auf der Leinwand, per Videoeinspieler, direkt aus dem Dschungel. Der «Chor» besteht aus Aktivisten, Überlebenden eines Massakers, Indigenen, Kleinbauern. Als «Seher» tritt der indigene Philosoph Ailton Krenak auf.

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Was wir zur Zeit erleben, ist vielleicht das Werk einer liebenden Mutter, die beschlossen hat, ihr Kind zumindest für einen Augenblick zum Schweigen zu bringen. Nicht, weil sie es nicht mag, sondern weil sie ihm etwas beibringen will: `Tochter, Sohn, sei still´.
Ailton Krenak 

Den Live-Part der Antigone auf der Bühne übernimmt Frederico Aurojo. Kreon wird von der Belgierin Sara de Brosschere dargestellt. Manchmal spielen Frauen Männerrollen und Männer Frauenrollen. Überhaupt geht vieles durcheinander. Permanent wechseln sie die Ebenen, die Kleidung, die Rollen, sind auf der Bühne oder im Video. 

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Mal sind die Schauspieler und Aktivisten sie selbst und erzählen von der Erfahrung im Regenwald: Nachfahren von Kolonialherren mit Nachfahren von Sklaven mit Überlebenden eines Massakers von 1996. Sie erzählen, wie es war, das Massaker nachzustellen und dabei die Strasse zu blockieren, aus der ununterbrochen Lastwagen die kostbaren Güter aus dem Regenwald abtransportieren. Jede Minute, jeden Moment wird dieser Schatz unwiederbringlich geplündert und zerstört.

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Und dann sehen wir das auch auf Video: Eine Gruppe von Aktivisten protestiert und skandiert gegen den Raubbau. Die Polizei will sie stoppen. Ein überforderter Kommandeur reisst den Anführer brutal zu Boden und schiesst ihn schließlich kaltblütig in den Kopf. Die Demonstranten – Frauen, Männer, Kinder – versuchen, sich gegenseitig zu schützen, rennen panisch durcheinander – einige werden abgeknallt, andere entkommen. Das zu sehen, ist schier unerträglich – obwohl es «nur» nachgestellt ist. DAS ist der Hintergrund, auf dem Antigone wieder lebendig wird – und der bekannteste Satz der Tragödie:

Ungeheuer ist vieles. Aber nichts ungeheurer als der Mensch.

Dann sind wir wieder in der Antike und lauschen dem Dialog von Vater und Sohn – von Diktator und Prinz, von Gesetzesdenken und Mitgefühl – und beobachten gleichzeitig brasilianische Ureinwohner, die dem Stück zuschauen und höflich applaudieren – sie zollen dieser fremden, unverständlichen Welt einen Respekt, den sie selbst nie erfahren haben. 

Portugiesisch, niederländisch – im Stück sprechen die Schauspieler ihre Muttersprache. Die «Untertitel» werden oben eingeblendet. Ein anstrengender Abend – und ungeheuer eindringlich. Die Schreie der «Antigone», die ihren Bruder betrauert, und die Wut und Verzweiflung der Aktivistin Kay Sara gehen unter die Haut. Das ist nicht gespielt, merkt der Zuschauer. Es ist echt, wenn sie unter Tränen mit sich überschlagender Stimme brüllt: «Hört endlich auf, geht weg, geht endlich endlich weg!»

Und wenn Frederico, ihre Verkörperung auf der Bühne, die Namen so vieler Aktivisten aufzählt, die erschlagen, erschossen, mundtot gemacht wurden, dann wirbelt er Staub und Sand auf, die die ganze Bühne und einen Teil des Zuschauerraums in Nebel hüllt. Wir sind gemeint – wir Menschen, wir Europäer, die einfach nicht aufhören mit der Zerstörung! 

Wie kam es zu dem gewaltigen und vielschichtigen Unterfangen dieses Theaterstückes?Nach seinem Film über das «Neue Evangelium», den Milo Rau in Süditalien gemeinsam mit Geflüchteten realisierte, wurde er von der MST nach Brasilien eingeladen, der Landlosenbewegung. Diese politische Bewegung ist nicht zu unterschätzen: Sie wurde nach der Militärdiktatur Brasiliens gegründet, um eine gerechte Agrarreform umzusetzen – was bis heute nicht gelungen ist. Immer noch besitzen 10% der Bevölkerung 80% des Landes. Die MST vertritt 500.000 Familien von Kleinbauern «ohne Land», betreibt Universitäten, landwirtschaftliche Forschung und seit einigen Jahren verstärkt «kulturellen Aktivismus». Das politische Theater sieht die Bewegung als eine wichtige Methode der Bewusstseinsbildung. 

Es war ein gewaltiges Projekt, auf sehr vielen Ebenen. Die Arbeit am Stück wurde durch Corona über zwei Jahre auf Eis gelegt – doch danach waren alle wieder da, um es abzuschließen. Auf der Pressekonferenz wird Milo Rau gefragt, ob er denn glaube, mit Theater etwas verändern zu können – und ob er nie daran gedacht hat, aufzugeben. «Ich habe jeden Tag, jede Stunde daran gedacht – es war eine Zeit voller Zweifel und Widersprüchlichkeit, neues Ausprobieren und wieder Scheitern. Doch wir haben eine Moral des Weitermachens entwickelt. Und ja, ich bin sicher: Die Welt kann verändert werden.»

So blieb es nicht beim Theater: Rau lancierte die «Erklärung des 13. Mai», die viele Prominente unterschrieben – ein Manifest gegen die nachhaltige Zerstörung des Regenwaldes durch Unternehmen. Ein Musik-Video entstand: «Tomorrow is not for Sale» – mit der Aufforderung an Kinder in Supermärkten, Nestlé, Ferrero und andere Greenwasher in den Boden zu stampfen. Und auch die Arbeit an der Alternative: Er promotet den Vertrieb fair produzierter und gehandelter Schokolade und «New-Tella» – statt Nutella. 

Am Ende des Stücks sehen wir noch einmal die Nachstellung des Massakers, doch jetzt aus einer höheren Perspektive. Diesmal ist zu erkennen, dass die Polizisten Schauspieler sind – wir sehen sie Arm in Arm mit den wieder aufgestandenen «Erschossenen». Echte Polizei kommt und will die Aktion verhindern – und gestattet sie schliesslich doch. So sehen wir, wie Polizisten Zeugen werden, wie ihre Kollegen ein Massaker begehen; wir sehen, wie Überlebende des echten Massakers deren Erschütterung bemerken. Und wie vielleicht damals Antigone erleben wir, was es heisst: endlich trauern zu dürfen. Nicht vergessen zu sein. Wenigstens das.

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Milo Rau und Frederico Aurojo auf der Pressekonferenz

tPlakat des Videos «Tomorrow is not for Sale»