Das Loch im Zaun
Aus dem Podcast «Fünf Minuten» von Nicolas Lindt.
Im Fernen Osten, in Myanmar, unbemerkt von der Welt, deren Aufmerksamkeit auf den Nahen Osten gerichtet ist, sitzt Aung San Suu Kyi in einem Haus, das kein Gefängnis ist und doch ein Gefängnis. Das Haus besitzt keine Zellen, sondern richtige Zimmer, es hat Fenster und eine Tür. Doch die Politikerin im ehemaligen Burma darf ihr Haus nicht verlassen. Sie steht unter Hausarrest.
Aung San Suu Kyi weiss, was das ist. Sie hat viele Jahre lang so gelebt, und jetzt lebt sie wieder so. Sie wird festgehalten, weil sie gefährlich ist. Gefährlich für die Regierung. In ihrem Land regieren die Generäle. Suu Kyi ist ihr Gegner. Sie kämpft für die Demokratie und für die Freiheit der Menschen in Myanmar. Deshalb wurde sie eines Tages verhaftet und zu vielen Jahren Gefängnis verurteilt. Weil sie in ihrem Volk so beliebt ist, getraute sich die Regierung nicht, sie gefangenzuhalten. Sie sperrten sie deshalb in ihrem Haus ein. Dort war sie frei. Doch ihre Freiheit endete an der Haustür.
Nach fünfzehn Jahren drehte sich der Schlüssel im Schloss, und die Tür ging auf. Die fünfzehn Jahre älter gewordene Suu Kyi konnte ihr Haus verlassen und in die Welt zurückkehren. In der folgenden Zeit durfte sie endlich verwirklichen, was sie immer gewollt hatte: ihrem Land dienen. Endlich konnte sie reisen und endlich konnte sie Menschen treffen. Sie konnte all das tun, was ein freier Mensch tun kann. Und die grosse Mehrheit des Volkes wählte sie und ihre Partei in die Regierung.
Doch inzwischen haben die Generäle die Macht wieder an sich gerissen. Suu Kyi wurde wieder verhaftet und wieder verurteilt. Wieder für viele Jahre. Und wieder ist ihr Gefängnis kein Kerker, sondern ein Haus.
Nicht in Freiheit leben zu können, ist schlimm. Aber Hausarrest statt Gefängnis klingt etwas weniger schlimm. Im eigenen Haus gefangen zu sein, denke ich, könnte erträglich sein. Ich hätte wenigstens mehrere Zimmer. Ich hätte Fenster und ich könnte sie öffnen. Ich hätte Licht. Frische Luft. Ich glaube, ich würde versuchen, mich darauf einzustellen. Es bliebe mir nichts anderes übrig, aber ich glaube, ich könnte es.
Ich würde mir meine eigenen Grenzen setzen. Ich würde es tun, um nicht merken zu müssen, dass ich gefangen bin. Ich würde meinen Tagesablauf immer gleich, nach einem festen Rhythmus gestalten, und ich würde alle mir zur Verfügung stehenden Mittel dafür verwenden, das Haus zu schmücken und es so wohnlich wie möglich zu machen. Wäre mir die Welt da draussen verwehrt, dann würde das Haus meine Welt.
Vor allem aber würde ich hoffen, dass ich den Garten betreten dürfte. Jeder Winkel darin, jeder Baum, jede Pflanze wäre dann für mich wie ein Land, das ich immer wieder besuchen würde. Ich würde nicht mehr nach Griechenland oder Italien reisen, sondern zur Birke vorne beim Zaun – oder zur Lärche, zur Palme und zum Holunder. Ich würde alles, was da wächst und gedeiht, liebevoll pflegen und jeden Tag aufs neue bewundern. In meinem Garten würde ich aufleben. Unter der Weite des Himmels hätte ich das Gefühl, ich sei frei.
So ein Hausarrestleben wäre wohl gar nicht so sinnlos. Ich würde Bescheidenheit lernen und das Grosse im Kleinen entdecken. Ich könnte ein anderer Mensch werden. Nur manchmal, nachts, würde mich eine Unruhe packen. Ich müsste hinaus in den Garten gehen und ein Loch im Zaun suchen. Und ich würde nicht aufgeben, bis ich einen Weg in die Freiheit gefunden hätte.
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Aung San Suu Kyi aus Myanmar, deren Schicksal die ganze Welt kennt und dennoch vergessen hat – ich wünsche ihr, dass sie nicht aufgibt. Die berühmte Gefangene, die an der Liebe zu ihrem Land unerschütterlich festhält, ist inzwischen schon 78 und gesundheitlich geht es ihr immer schlechter. Ich wünsche ihr, dass sich das Loch im Zaun auftut, bevor es zu spät ist.
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