Das wundersame Leben eines inhaftierten Drogenbosses

Die Bandengewalt in Ecuador hat einen neuen Höhepunkt erreicht, worauf der frischgebackene Staatspräsident Daniel Noboa letzte Woche den Ausnahmezustand verhängte und erklärte, das Land befinde sich in einem internen bewaffneten Konflikt. Was steckt dahinter? Aus der Serie «News aus Lateinamerika».

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Vor zehn Tagen erschütterten Bilder aus Ecuador die ganze Welt.  Bewaffnete stürmten die Live-Sendung eines staatlichen Fernsehkanals und zwangen Mitarbeitende zu Boden, bedrohten sie mit Waffen und Sprengstoff. Gleichzeitig kam es in verschiedenen Städten des Landes zu Unruhen, Explosionen und Schiessereien. Am Vortag war bekannt geworden, dass einem Drogenboss die Flucht aus dem Gefängnis gelungen war: Adolfo Macías alias «Fito», dem Kopf der «Choneros», einer der grössten Banden des Landes, die unter anderem mit Drogenhandel, Auftragsmorden und Erpressung in Verbindung gebracht wird.

Dies war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte und Staatspräsident Daniel Noboa dazu veranlasste, einen «internen bewaffneten Konflikt» zu deklarieren, den Ausnahmezustand zu verhängen und die Sicherheitskräfte zu mobilisieren. Noboa, der erst seit November im Amt ist, erklärte 22 Gruppen zu terroristischen Organisationen und nicht-staatlichen Kriegsparteien, die es auszuschalten gelte. Tatsächlich gelang laut Medienberichten – nebst der Konfiszierung von Waffen, Sprengkörpern und einer grösseren Menge Kokain – auch die Festnahme von hunderten von Personen. Angesichts der Tatsache, dass in Ecuador zehntausende von Menschen in die Drogenmafia verwickelt sein dürften, ist diese Festnahmewelle jedoch höchstens der erste von vielen Schritten.

Ecuador gilt als einer der Haupt­umschlagplätze für Kokain-Lieferungen nach Europa, während die Nachbarländer Peru und Kolumbien zu den führenden Produzenten des Rohstoffs für die Droge gehören. Nach Schätzungen des US-Aussenministeriums wird ein Drittel des kolumbianischen Kokains durch Ecuador transportiert, bevor es in den Norden gelangt. Im Jahr 2022 wurden mehr als 200 Tonnen Drogen beschlagnahmt, der zweithöchste Wert in der Geschichte des Landes.

Das harte Durchgreifen verschafft Noboa Zuspruch von vielen, die verzweifelt einen Rückgang der Gewaltspirale herbeisehnen. Schliesslich hat die Mordrate des Andenlandes letztes Jahr einen historischen Höchststand erreicht. Es wurden 7878 Tötungsdelikte registriert, von denen weniger als 600 aufgeklärt wurden.

Klingt alles ziemlich heftig, und gleichzeitig stellt sich die Frage, was wohl hinter all dem steckt. Einige wundern sich, dass das Parlament gerade in dieser chaotischen Zeit ein umstrittenes Energiegesetz durchgewunken hat, praktisch unbemerkt in der Hitze des aktuellen Gefechts.

Ebenfalls für Fragezeichen sorgt auch die Tatsache, dass die Flucht eines «hochrangigen» Gefangenen wie Fito unbemerkt vor sich ging, und es offenbar bis heute unklar ist, wann und wie er entkam – oder ob er sich noch irgendwo auf dem Gelände befindet. Medien berichteten lediglich, dem Wachpersonal sei irgendwann aufgefallen, dass Fito nicht mehr in seiner Zelle war. Offenbar können sich die Gefangenen relativ frei bewegen, so dass sogar davon ausgegangen wird, dass er «das Gefängnis durchs Tor verlassen hat, indem er einen Arzttermin vorgetäuscht oder sich als Polizist verkleidet hat.» Es wird selbst für möglich gehalten, dass die Flucht erst nach Tagen bemerkt wurde.

Dass die inhaftierten Mitglieder der Drogenmafia im Gefängnis ein relativ angenehmes Leben führen, ist kein Geheimnis – genauso wenig wie die Verfilzung der Kriminellen mit Polizei und Militär, was diese lockere Vorgehensweise und die laschen Sicherheitsvorkehrungen überhaupt erst möglich macht. Ehemalige Insassen erzählen, dass es im Gefängnis Swimmingpools gebe und dass Partys gefeiert würden. Gleichzeitig verfügen Figuren wie Fito innerhalb und ausserhalb des Gefängnisses über grosse Macht. Laut der Organisation «InsightCrime», die zum organisierten Verbrechen in Lateinamerika recherchiert, leitete Fito auch während seiner Haftzeit weiterhin die kriminellen Aktivitäten der «Choneros».

Verständlich, dass viele Ecuadorianer Noboas Durchgreifen begrüssen – denn in den letzten Jahren hat sich die Situation stark verschlimmert. Die Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Banden, die in eine Vielzahl von weitgehend unabhängigen Untergruppen zersplittert sind, führen wöchentlich zu Toten, und zwar sowohl auf der Strasse als auch in den Gefängnissen.

Nachdem das Land in den letzten Jahren mehrere Regierungswechsel überstehen musste, kann die politische Lage nicht gerade als stabil bezeichnet werden – und diese Situation verhalf den rivalisierenden kriminellen Organisationen zu erneutem Machtzuwachs. Darüber, ob Noboas Konfrontationskurs zielführend ist oder nicht, gehen die Meinungen auseinander. Kann er das Gewaltmonopol des Staates wiederherstellen und für mehr Sicherheit im Land sorgen? Oder hat der Militäreinsatz zur Folge, dass sich die Fronten noch verschärfen und die Drogenmafia der Regierung endgültig den Krieg erklärt? Schliesslich hatte auch Präsidentschaftskandidat Fernando Villavicencio, der letzten August erschossen wurde, im Vorfeld Drohungen aus genau diesen Kreisen erhalten.

Der ecuadorianische Innenminister sagte, der Kampf würde viele Opfer fordern – doch es gebe keine Alternative. Menschenrechtsorganisationen dagegen kritisieren den Einsatz des Militärs, weil bei den gewaltsamen Auseinandersetzungen – egal ob unter den Banden oder zwischen den Banden und den Sicherheitskräften – immer auch die Zivilbevölkerung unter die Räder kommt.

Wie dem auch sei, gehen die Militäroperationen seit letzter Woche eher im Stillen und sehr gezielt vor sich. Dies bestätigten mir mehrere Bekannte, die vor Ort leben. Schon wenige Tage nach dem grossen Knall habe sich die Lage in den Städten beruhigt, die Läden seien geöffnet und die Leute auf der Strasse. Sogar die Landstrassen seien problemlos und ohne Militärkontrollen passierbar. Die Ausgangssperre gilt nur nachts, so dass der Alltag nicht gross beeinträchtigt wird. Von bürgerkriegsähnlichen Zuständen sei man weit entfernt, auch wenn es in vielen ausländischen Medien danach aussehe.

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