Auf der Degrowth-Konferenz in Leipzig wurden neue ökosoziale Wirtschaftsformen skizziert. Formiert sich hier eine neue internationale Bewegung?

Der Workshop «Anleitung zur Karriereverweigerung» sei völlig überfüllt gewesen, erzählt Dominic Egger und lacht herzlich. Der 28-jährige Volkswirtschaftsstudent aus Heidelberg sitzt im Innenhof der Universität Leipzig, wo sich Anfang September beim viertägigen Degrowth-Kongress bis zu 3000 vor allem junge Menschen tummeln – viel mehr, als dessen Organisationsteam erwartet hatte. Ist das der Beginn einer neuen internationalen Bewegung? Und stimmt es, dass die junge «Generation Y» - was sich wie das englische «why» spricht – auf Wachstum ihres Geldkontos pfeift und stattdessen auf Sinn und Zeitwohlstand setzt?

Der Student mit den kurzen braunen Haaren und den sanften Gesichtszügen ist davon überzeugt, dass wir angesichts von Klimakrise und globalen Ungerechtigkeiten gar keine andere Wahl haben, als dem Wachstum zu entwachsen. Doch in seinem Studium, berichtet Dominic Egger, habe er keinerlei Antworten auf seine drängenden Fragen gefunden, etwa zur steigenden Erwerbslosigkeit. «Wenn ihr den Master habt, werdet ihr verstehen», habe er sich ständig anhören müssen. Jetzt, wo er seine Masterarbeit fast fertig hat – zum ungewöhnlichen Thema Foodsharing -, hätten die Dozenten den Slogan verändert in: «Promoviert erst mal!». Irgendwann reichte es ihm, seitdem engagiert er sich im «Netzwerk Plurale Ökonomik» (siehe Das Gute von Ute S.8). Zumindest in Heidelberg hätten sie es geschafft, mit der Geschichte des ökonomischen Denkens eine alternative Lehrveranstaltung durchzusetzen, berichtet er nicht ohne Stolz. «Und die kommt sehr gut an!»

Der Hobbychorsänger und Liebhaber von Schumann-Liedern hatte zuvor an einer politischen Radtour Richtung Leipzig teilgenommen, organisiert von der Heinrich-Böll-Stiftung. Singend und trällernd hatte er in einer Gruppe von 21 Radlern und Velofahrerinnen eine Woche lang die beiden ostdeutschen Bundesländer Brandenburg und Sachsen-Anhalt durchradelt und dabei sprichwörtlich er-fahren, wie unterschiedlich unfreiwilliges und freiwilliges Entwachsen aussieht. In der früheren DDR war nach Mauerfall der grösste Teil der Industrie kollabiert und nur noch die Erwerbslosigkeit gewachsen. Viele Orte haben sich von dieser Zwangsschrumpfung bis heute nicht richtig erholt, vor allem das Selbstwertgefühl der Menschen hat schwer gelitten.

«Schockierend» fand der Student die Besichtigung der hässlich verbauten Industriestadt Bitterfeld-Wolfen. Zu DDR-Zeiten zählte der Chemiestandort zu den dreckigsten Orten Europas. Die Zahl der Beschäftigten stürzte nach der Wende von 66‘000 auf 5000 ab, um sich auf heute wieder etwa 20‘000 einzupendeln. Milliardensubventionen sorgten dafür, dass die Chlor- und Giftstoffproduktion erhalten blieb. «Viel besser wäre es gewesen, die Betroffenen etwa bei der Stadtplanung selbst gestalten zu lassen, wie sie das Schrumpfen gestalten», findet Egger. «Wenn der Staat sich einmischt, wird mehr vom alten System reproduziert», folgerten auch die beiden mitradelnden Gemeingut-Vordenker Silke Helfrich und Stefan Meretz.

Neue Ideen fand der Ökonomiestudent hingegen dort, wo Menschen ihre Zukunft aktiv selbst organisiert hatten. Er konnte beobachten, wie sich in Potsdam und der Region des Hohen Fläming «erstaunlich» viele alternative Projekte angesiedelt haben – Häuser der Eigenarbeit, Ökodörfer, Initiativen für solidarische Landwirtschaft und vieles mehr. Sie alle haben gemeinsam, dass sie im Gegensatz zur neoklassischen Wirtschaftslehre das Schrumpfen von Ressourceneinsätzen und entfremdeter Arbeit positiv sehen. Den Erfolg ihrer wirtschaftlichen Aktivitäten würden sie «statt nach Gewinn nach Sinn» bewerten, so Egger.

Auch in der «Schrumpfstadt» Leipzig sind viele solcher Initiativen aufgeblüht: Gemeinschaftsgärten, Repair-Cafés oder der gemeinnützige Thinktank «Konzeptwerk Neue Ökonomie», der den Degrowth-Kongress monatelang inhaltlich und organisatorisch vorbereitet hat. Der überwiegend ehrenamtlich arbeitende Vorbereitungskreis von etwa 70 Personen, der stets im Konsens entschied, wagte das Experiment, die Kongressteilnehmenden selbst entscheiden zu lassen, wieviel sie bezahlen wollten - von 15 Euro aufwärts. Am Ende kam mehr Geld zusammen, als sie erwartet hatten. «Die solidarische Selbstorganisation dieser Konferenz ist wirklich beeindruckend», kommentiert Dominic Egger.

Auf einer Bank im Innenhof der Uni erholt sich der Ökonomiestudent gerade vom dichten Kongressprogramm. Und schaut auf die vielen Freiwilligen, die für den veganen Mittagstisch von mindestens 2000 Menschen Gemüse schnippeln. «Wenn ich nicht mithelfe, krieg ich ein schlechtes Gewissen», lächelt eine 31-jährige Politikstudentin. «Alles läuft problemlos», bestätigt eine 45-jährige Köchin und hebt eine Riesenportion Rote Bete aus dampfenden Bottichen. Die Feldfrüchte hat das gleichnamige Kollektiv «Rote Bete» im Leipziger Umfeld angebaut. Ökosoziales Verhalten sei auf der Degrowth keine Theorie, sondern Praxis, befindet Egger. In Workshops geht es unter anderem um den Bau von Lastenrädern oder Kompostklos.

Insgesamt über 500 Veranstaltungen bietet der Kongress – grosse Podiumsdiskussionen mit international bekannten Globalisierungskritikerinnen wie Nicola Bullard, Alberto Acosta oder der per Video zugeschalteten Naomi Klein, aber auch viele kleine Seminare und Workshops oder selbstorganisierte Formate wie Open Space oder Group Assembly Process. «Wir müssen die Verfechter der Gemeingüter, die ökologischen und sozialen Bewegungen für das Gute Leben und die Kämpfe indigener Völker miteinander verknüpfen», fordert etwa Nicola Bullard vom «Forum Globaler Süden». «Die verschiedenen Flüsse müssen zusammenfliessen und gross werden.» Das ist auch die Hoffnung von Dominic Egger.

Wie das konkret verlaufen soll, dazu hat er verschiedene Antworten gefunden. Ein wichtiges Widerstandsnest gegen ein aggressives «Weiter so» macht Dominic Egger bei Protagonisten der EU-Krisenländer aus. So etwa bei Haris Konstantatos, Politikwissenschaftler von der Universität Athen, der nicht mehr an das Modell glaubt, «das überall passt». Gerade der dezentrale pluralistische und basisdemokratische Aufbau von unten bringe viele verschiedene Initiativen zum Blühen: «hunderte Laboratorien, Genossenschaften, besetzte Fabriken, Sozialkliniken, Erzeuger-Verbraucher-Gemeinschaften, Nachbarschaftszentren, Regiowährungen, Gemeinschaftsgärten». Gerade «die Mittelmeer-Mentalität kann die neue Erzählung des Entwachsens befördern», schmunzelt das Parteimitglied der linken Syriza.

Ein anderes Widerstandsnest befindet sich offenbar an der Universität Jena, also wohl nicht zufällig ebenfalls in einer ostdeutschen Stadt, die ein Wirtschaftsschrumpfen bewältigen musste, überlegt Egger. Mit dem Beschleunigungskritiker Hartmut Rosa und der Umweltphilosophin Barbara Muraca sind gleich zwei bekannte Vordenkende der neuen «Jenaer Schule» in Leipzig präsent. Degrowth sei eine Chance für soziale Transformation, befindet Muraca und skizziert das Entwachsen als «konkrete Utopie» im Sinne von Ernst Bloch: Es sei bereits in der Welt, wenn auch noch nicht voll verwirklicht.

Obwohl er in vier Tagen dicht gedrängter Veranstaltungen und intensiver Begegnungen keine endgültigen Antworten gefunden hat, ist Dominic Egger am Ende des Kongresses hochzufrieden: «Das hat mir Mut gemacht. Es gibt immer mehr Leute in meinem Alter, die anders arbeiten und leben wollen.» Es sei eine tolle Erfahrung gewesen, «dass alle hier zusammenkamen.» Die Leute hätten sich hier zum ersten Mal als Bewegung erlebt – «auch wenn das dazu führt, dass der Workshop «Anleitung zur Karriereverweigerung» aus allen Nähten platzt.»     
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