Gertrud Woker, die vergessene Berner Heldin
Chemieprofessorin, Friedensaktivistin und Frauenrechtlerin der ersten Stunde – die Bernerin Gertrud Woker engagierte sich ein Leben lang für eine gerechte und gewaltfreie Welt. Mit 88 Jahren liess ihre Familie sie in die psychiatrische Anstalt einweisen, weil sie angeblich an Verfolgungswahn litt. Nun kommt ihre Biographie als Film in die Schweizer Kinos. Aus der Serie «Aussergewöhnliche Frauenbiographien».
Wenn sie ein Mann gewesen wäre, wäre sie heute weltberühmt und würde als Wissenschaftspionier gefeiert. Doch die 1878 in Bern geborene Gertrud Woker wurde trotz ihrer herausragenden Arbeit und ihrem unermüdlichen Engagement ein Leben lang in den Hintergrund gedrängt. Zuerst an der Universität Bern, wo sie als zweite Frau überhaupt eine Dozentenstelle erhielt. Dann im ebenfalls männlich dominierten politischen Umfeld, in dem sie auf Grund ihres pazifistischen Engagements als Kommunistin und Landesverräterin verschrieen wurde. Und schliesslich von ihrer Familie, die sie mit 88 Jahren in eine Nervenheilanstalt einweisen liess, in der sie schliesslich verstarb. «Nicht ganz klar im Kopf» sei Tante Trudi gewesen, hiess es. Auch wenn mittlerweile offenbar ist, dass sie klarer gewesen ist als so manch einer ihrer männlichen Zeitgenossen.
Gertrud Woker lernte heimlich nachts, um die Matura zu machen, die sie schliesslich mit Bestnoten abschloss. 1900 begann sie zu studieren, doktorierte und wurde später Privatdozentin für Chemie in Bern – die erste im deutschsprachigen Raum. Ab 1911 leitete sie dort das Institut für physikalisch-chemische Biologie. Doch sie musste hart um ihre akademische Anerkennung kämpfen. Erst 1933 wurde sie zur ausserordentlichen Professorin ernannt, während ihre männlichen Kollegen einen festen Lehrstuhl und natürlich einen höheren Lohn hatten. Eine ordentliche Professur könne sie nur erhalten, wenn sie Chemiegeschichte lehre, hiess es. Doch sie wollte forschen.
Dass man als Frau anfangs des 20. Jahrhunderts einen schweren Stand in der Wissenschaft hatte, war allerdings nur einer der Gründe, dass Wokers Arbeit lange nicht anerkannt wurde. Das grössere Problem war, dass sie sich politisch exponierte. Sie schrieb und sprach jahrzehntelang gegen den Krieg und vor allem gegen den Einsatz von Giftgas und Atomwaffen an. Als sie 1924 in den USA eine Produktionsstätte für chemische Kampfstoffe besuchte, zeigte sie sich entsetzt, «von Grauen erfasst im Gedanken an die Unglücklichen, die mit Feuer und Gift grausamer umgebracht würden als das schlimmste Ungeziefer». Sie begann Texte zum Thema zu veröffentlichen und zeigte auf, welche Folgen der Einsatz von Giftgas im Krieg hatte.
Besonders kritisierte sie, dass die Wissenschaft vom Militär missbraucht und für Gewalt am Menschen eingesetzt wurde. «Im Namen der Würde der reinen Wissenschaft verurteilen wir aufs schärfste den Missbrauch wissenschaftlicher Forschung für destruktive kriegerische Zwecke», schrieb sie. Ihr 1932 erschienenes Buch «Der kommende Gift- und Brandkrieg und seine Auswirkungen gegenüber der Zivilbevölkerung» wurde unter Hitler auf die Liste verbrennungswürdiger Bücher gesetzt.
Ab den 50er Jahren fokussierte sie in ihren Schriften und Reden – unter anderem vor dem Völkerbund, der Vorgängerinstitution der UNO – auf die Gefahren des Atomzeitalters, und auch in diesem Kontext positionierte sich sich klar. Dies war der Schweizer Regierung ein Dorn im Auge: 1959 wurde ihr vom Bundesrat verboten, einen europäischen Frauenkongress zum Thema atomare Aufrüstung zu organisieren. Sie schreibt: «Das Vertrauen, das die Völker, die in zwei Weltkriegen unsäglich gelitten haben, bisher der Schweiz als Friedensinsel entgegenbrachten, wird dauernd durch solche ungerechtfertigten, die Grundrechte infrage stellenden Verbote erschüttert.»
Der Bundesrat, der solche Verbote verhing und Frauen wie Getrud Woker ständig Steine in den Weg legte, bestand ausschliesslich aus Männern. Wären Frauen an der Macht, so Wokers Überzeugung, gäbe es keine Kriege: «Wir Frauen fordern eine völlige Neugestaltung der Welt. Es ist soziale Ungerechtigkeit, die zu Krieg führt. Das auf Lebenserhaltung abgestimmte Wesen der Frau hätte die Mittel und Wege zur Erhaltung des Friedens gesucht und gefunden.» Für die politische Mitbestimmung der Frau hatte sie sich schon als Studentin eingesetzt, und später gehörte sie zu den Mitbegründerinnen des Schweizerischen Verbands für Frauenstimmrecht.
Wokers Geschichte klingt wie ein Film – und tatsächlich ist ihre Biographie vor kurzem verfilmt worden. Kinostart ist am 9. September, doch in den nächsten Tagen finden verschiedene Vorpremieren statt:
Die Pazifistin – Gertrud Woker: eine vergessene Heldin (Regie Fabian Chiquet und Matthias Affolter)
Montag, 6. September, 12:00 Uhr: Kino Arthouse Le Paris, Zürich
Dienstag, 7. September, 20:00 Uhr: Kino Rex, Schwanengasse 9, Bern
Am Sonntag, 12. September um 10:30 findet nach der Filmvorführung im Kino Rex (Bern) die Vernissage der neuen Ausgabe der Zeitschrift «Neue Wege» statt, für die Gertrud Woker regelmässig geschrieben hat. Mehr Infos: www.neuewege.ch
Mehr Infos zum Film und Trailer
Quellen für die Biographie:
Neue Wege
Universität Bern
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Aussergewöhnliche Frauenbiografien – bisher erschienen:
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