Die Eigendynamik der Japankäfer
Aus dem Podcast «Fünf Minuten» von Nicolas Lindt.
Diesmal ist es kein Virenkäfer. Sondern ein richtiger. Würde er Chinakäfer genannt, wäre das mediale Erschrecken noch grösser. Glücklicherweise heisst er nur Japankäfer. Doch er stammt, wie die Zeitungen schreiben, «aus dem asiatischen Raum». Das schürt noch immer westliche Ängste.
Durch den wachsenden Pflanzenhandel mit Asien erreichte der Käfer offenbar schon vor 50 Jahren unsere Breitengrade. Da er gemäss der Zeitungsberichten keine «natürlichen Feinde» hat, gern «in Gruppen vorgeht» und deshalb «im Nu ganze Felder vernichtet», müsste es ihm, so könnte man meinen, in einem halben Jahrhundert gelungen sein, Europa vollständig kahlzufressen. Doch unser Kontinent lebt noch, und auch das Tessin, wo der Käfer vor sechs Jahren die Schweiz erreichte, leidet noch nicht unter Hungersnot. Seither jedoch, weiss zum Beispiel die Migros-Zeitung, breitet er sich «im ganzen Land aus».
Das «ganze Land» beschränkt sich zurzeit noch auf Kloten. Mit einem Radius von ganzen zwei Kilometern. Mehr hat der furchterregende Käfer nach sechs Jahren Anwesenheit in der Schweiz nicht geschafft. Doch «in Kloten herrscht wegen des Schädlings Ausnahmezustand», berichtet der «Blick» alarmiert und zitiert den Biologen Gisehlher Grabenwehr, der mit staatlichen Geldern an insektentötenden Pilzen forscht, um den Japankäfer zu neutralisieren. Der Biologe spricht dramatisch von einem «Wettlauf gegen die Zeit». Er sagt es auch deshalb, damit das Geld weiterhin fliesst.
Auch jede andere Zeitung würde bestätigen, was der «Blick» in aller Selbstverständlichkeit ausspricht: Dass die Klimaerwärmung an der Ausbreitung des Insekts mitschuldig ist. Ebenso wie beim CO2 sind deshalb auch beim Japankäfer Massnahmen nötig, die weh tun. Natürlich genügt es nicht – wie uns die Migros-Zeitung auffordert –, einen Japankäfer, den wir gefunden haben, in einem verschlossenen Glas ins Gefrierfach zu legen und den erfrorenen Käfer am anderen Morgen - plattgedrückt und zermalmt – zu entsorgen. Es müssen Verbote her. Bis Ende September, meldet das Schweizer Fernsehen, dürfen Gärten und Rasenflächen in Kloten nicht mehr bewässert werden. Wenn dennoch ein Japankäfer entdeckt wird, muss «unverzüglich» der kantonale Pflanzenschutzdienst informiert werden. Dann rücken die Behörden dem Schädling mit Insektiziden zu Leibe.
Versprüht wird vor allem Acetamiprid, dessen Verbot schon mehrfach gefordert wurde, weil es Lebensmittel belastet. Doch in Kloten, vor ein paar Tagen, sah man das nicht so eng. 80 Zivilschützer und 35 «Fachpersonen» waren im Einsatz, um die gefährliche Kreatur flächendeckend zu liquidieren. Weder Rosen, Obstbäume noch Beerensträucher blieben verschont. Über Kloten legte sich ein Nebel aus Pflanzengift.
Damit nicht genug. Kloten muss in einen Quarantänezustand versetzt werden. Bis auf weiteres ist es verboten, Grüngut aus der Gemeinde hinauszubringen. Keinem Schädling soll es gelingen, im Kompost verborgen zu flüchten. Menschen, auch Flugpassagiere, dürfen Kloten zwar noch verlassen. Doch die Migros-Zeitung empfiehlt: «Kontrolliere Gepäck und Fahrzeug gründlich, wenn du kürzlich in der Region warst. Verzichte darauf, Pflanzen von dort mitzunehmen.»
Wie müssen wir das verstehen? Darf ein Fluggast nach seiner Ankunft in Kloten noch einen Blumenstrauss kaufen, wenn er weiter nach Zürich reist? Oder würde der Strauss konfisziert, wenn er Kloten verlässt? – Die Satire lauert gleich um die Ecke. Doch sie beantwortet nicht die berechtigte Sorge, der Käfer könnte schädlicher sein, als wir denken. Vielleicht ist er wirklich sehr schädlich. Vielleicht kann er wirklich ganze Ernten zerstören. Deshalb muss man ihm wirklich zu Leibe rücken.
Ich bezweifle das nicht. Aber ich bezweifle die dahinterstehende Einstellung. Es ist die Einstellung, die wir kennen: Heute erscheint der Käfer in Kloten. Morgen verbreitet er sich in Zürich. Übermorgen stürzt er sich auf die ganze Schweiz.
Schon vor drei Jahren hat es geheissen: Heute sind 1000 Personen an Covid erkrankt. Morgen sind es 10’000. Übermorgen werden es Hunderttausende sein. Und dieselben Apokalyptiker sagen: Heute ist es zu warm. Morgen wird es zu heiss sein. Übermorgen verglüht die Welt.
Nichts davon hat sich bewahrheitet. Nichts davon wird sich bewahrheiten. Denn das Leben ist wie die Käfer. Plötzlich tauchen sie irgendwo auf. Zum Beispiel in Kloten. Schon befürchten die Menschen das Schlimmste. Eine biblische Plage. Eine Epidemie. Sie bekämpfen die Käfer. Sie vernichten die Käfer. Bis keine mehr da sind. Und die Menschen, vor allem die Forscher und die Experten glauben, sie hätten gewonnen. Sie hätten das Ungeziefer besiegt. Mit der chemischen Keule – mit den Waffen der Menschen.
Doch würden die Käfer wollen, wären sie morgen schon wieder da. Irgendwo. Anderswo. Und der Giftkrieg würde von vorn beginnen. Oder es kommen andere Käfer. Andere Viren. Und wieder würden die Menschen von heute das Schlimmste befürchten. Warum lernen sie nichts daraus?
Weil die modernen Menschen die Natur nicht mehr kennen. Sie spüren sie nicht mehr. Sonst hätten sie die Gewissheit – nicht im Kopf, aber im Herzen –, dass die Dinge kommen und gehen, kommen und gehen, kommen und gehen. Nach welchen Gesetzen, das können wir höchstens ahnen. Doch irdische Regeln, im Sinne unserer Wissenschaft sind es nicht.
Auch die Japankäfer gehören zu Gottes Geschöpfen. Damit sage ich nicht, man solle die Tierchen in Frieden lassen. Ich sage nicht, man solle sie fressen und wüten lassen. Aber sie gehorchen nicht unseren Regeln. Sie sind nicht berechenbar. Das gilt für japanische Käfer ebenso wie für andere fremde Gäste aus der Pflanzen- und Tierwelt. Sie sind keine Menschen. Sie haben keine bestimmte Absicht. Vielleicht bleiben sie und passen sich an. Vielleicht auch nicht. Plötzlich sind sie wieder verschwunden. Niemand weiss, warum.
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