Seelenlandschaften – und der Hirte in mir

Es ist mein innerer Hirte, der mich zu den Ereignissen führt, welche mein Leben wertvoll machen und bestimmen. Er ist niemals aufdringlich, auch wenn er mich zuweilen an Abgründe führt und mich dort zur Umkehr zwingt. Kolumne.

© Mia Leu

Das Herumirren auf der Oberfläche des Lebens, wie eine hirtenlose Herde Schafe, beschert der Menschheit schon seit hunderten von Jahren unliebsame Ereignisse. Seit Kain und Abel sind es zwei Ereignisquellen, die das menschliche Leben in äusserste Mitleidenschaft ziehen: Naturkatastrophen und vom Menschen selbst provozierte Kriege. Die einen waren gottgegeben, die anderen menschengemacht. Wobei die Frage noch offen ist: Wer hat den Menschen geschaffen?

Und wo stehen wir heute? Die Antwort auf diese Frage überlasse ich – in Anlehnung an Ezechiel, Kapitel 12,2 – jenen, welche Augen haben und sehen, welche Ohren haben und hören.

Warum schweigen die Lämmer, und wohin läuft die Schafherde mit ihren Hirten? Mit dem Schweigen der Lämmer meine ich unsere Haltung, mit der wir dem Zeitgeschehen gegenüberstehen. Mit Hirten meine ich jene innere Stimme, mit der wir den Dialog führen können über unser ureigenes Verhältnis zu uns selbst und zur Welt. Mit Schafherde meine ich uns Menschen, eingebunden im kollektiven (Un-)Bewusstsein.

Die Religionen und Hirten der Alten Welt sind passé, sie haben ausgedient. Sie treten derweil noch in Erscheinung, wie blinde Hirten, die mit ihren verlorenen Schafen das Licht im Dunkeln suchen. Für Naturkatastrophen brauchen wir, Gott sei Dank, weder Shiva, Zeus noch Wodan, das kriegen wir jetzt selbst auf die Reihe. Die weltumspannende Ära des grenzenlosen Mammons Wachstum, zwar noch nicht von allen erkannt, ist seit geraumer Zeit auch zu Ende. Und wie es so ist in der Geschichte der Menschheit, jagt ein Prophet den andern zum Teufel. Der neue Prophet predigt wie Moses vom Berg, diesmal vom helvetischen, und kündet mit seiner neuen Bibel The Great Reset von Klimagerechtigkeit und Besitzlosigkeit. Seine digitalen Hirten führen uns dabei schon vorauseilend auf sicheren Pfaden ins nächste Sodom und Gomorra. Das Ganze wird begleitet durch unsere Lösch- und Zensurkultur, die sich gebärdet wie eine Neuauflage des Malleus maleficarum, des Hexenhammers.

Jeder Mensch sollte grundsätzlich sein eigener Hirte sein. Denn nur so schafft er sich jene Seelenlandschaft, in der er sein eigenes Schicksal auf sicherem Pfade führt. Als freies Individuum wird er dann das kollektive Leben verantwortungsvoll mitgestalten. Das Schweigen der Lämmer hätte ein Ende, die Herde braucht keine Hirten mehr. Ganz im Gegensatz dazu, und trotz allem Gerede der neuen Propheten vom besitzlosen Dasein im unsterblichen virtuellen Leben, ist die neue Religion wie alter Wein in neuen Schläuchen: Sie ist in ihrem Wesen derart materialistisch terminiert, entseelt und geistlos, dass wir uns sogar – seinen Hirten sei Dank – ins Paradis der unvergänglichen künstlichen Intelligenz hineinphantasieren sollen, denn wer glaubt, bleibt selig.

Die menschlichen Pfade sind vielfältig und oft verworren. Sie sollten sich gerade deshalb in respektvoller und friedlicher Weise kreuzen und begegnen. Menschen bilden Beziehungen, Gemeinschaften und Nationen. Gerade dort gilt es, respektvolle und friedliche Wege zuzulassen. Dadurch bilden sich Seelenlandschaften im Inneren wie im Äusseren. Sie bilden die Grundlage für ein geisterfülltes, schönes und friedliches Miteinander von Individuen, Gemeinschaften und Nationen.

In ihrem Kurzfilm «HIRTEN – Seelen Landschaft Herde» gibt uns Mia Leu auf eindrückliche Weise die Möglichkeit, äusseren und inneren Seelenlandschaften zu begegnen. Ein wertvoller und schöner Film, der uns, wenn wir Augen haben, um zu sehen, und Ohren, um zu hören, den eigenen Hirten vor Augen führt.

«HIRTEN – Seelen Landschaft Herde» von Mia Leu wird am 16. August um 19:00 im Kino Rex in Bern gezeigt. Eintritt frei, Kollekte.

hirtenfilm.mialeu.ch

 

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Andreas Beers aus Bern ist Landwirt, Arbeitsagoge und Lehrer. Er kultiviert die Erde, sät und erntet, er denkt, spricht und schreibt über: Mensch, Erde und Himmel, oder was wir zum Leben brauchen.

«Menschensohn, du wohnst mitten unter einem widerspenstigen Volk, das Augen hat, um zu sehen, und doch nicht sieht, das Ohren hat, um zu hören, und doch nicht hört; denn sie sind ein widerspenstiges Volk». (Aus dem Buch Ezechiel, Kapitel 12,2. Ezechiel war Nachkomme einer Priesterfamilie und lebte um 597 v.Chr. am Fluss Chabur im Babylonischen Reich)