«Das Gehirn kann sich selbst aus dem Sumpf ziehen», sagt Niels Birbaumer. Das Leben des Neuropsychologen ist das beste Beispiel dafür

Nils Birmbaumer (Foto: zvg)

Nein, er sei keiner dieser Wissenschaftler, die schon als Knirpse schlüpfende Pantoffeltierchen unter dem Mikroskop beobachtet oder frühreife Gedichte geschrieben hätten: Der mehrfach ausgezeichnete Neurophysiologe und Psychologe Niels Birbaumer hat anderes geleistet: «Als Anführer einer Halbstarken-Gang gehörte ich zu den knallharten und coolen Kerlen Wiens», erzählt der 73-Jährige. «Wir stahlen, randalierten, knackten Autos, und das auch noch ohne erwischt zu werden.» Doch so cool sei er wohl doch nicht gewesen, sondern eher impulsiv: «Als eines Tages ein Mitschüler es wagte, mir – dem berüchtigsten Kerl der Schule – das Wurstbrot zu klauen, sah ich nur noch rot. Ich schnappte eine Schere, stürmte zum dreisten Dieb, der gerade herzhaft in mein Brot biss, bückte mich – und stiess zu. Er hatte ein Loch im Fuss, ich landete auf der Polizeiwache.»

Formbar im Guten wie im Schlechten

Er flog von der Schule. Sein Vater verknurrte ihn zur Arbeit in einer Polsterwerkstatt. Doch Birbaumer hatte Glück. Die Eltern liessen sich erweichen: Der Wechsel von der vormals autoritären, konservativen an eine liberale Schule mit Wert auf individuelle Entwicklung und Begabung, schien Wunder zu wirken: «Es gab es keine Notwendigkeit mehr, mich mit auffälligem Verhalten ins Zentrum zu stellen, mein neurologisches Belohnungssystem war endlich anderweitig gesättigt.» Gerade in der Pubertät sei die Hirnplastizität enorm gross – im Guten wie im Schlechten: «Es ist die Zeit, in der die grössten Katastrophen eintreten können, wenn man sie nicht verhindert.» Das Leben sei neben Vererbung immer auch eine Mischung aus Glück, sozialer Intelligenz und Faktoren der Umgebung.
Einem seiner Lehrer war es gelungen, sein Interesse an der Gehirnchemie und deren Auswirkung auf das Verhalten zu wecken. So sehr, dass sich der Widerborstige zum Studium dieser Fächer entschloss. «Doch die mafiösen Strukturen der herrschenden konservativen Professoren, die Einschränkung der Redefreiheit an der Universität, triggerten mein neurologisches Grundmuster zu sehr.» Dynamisiert, auch vom 68er-Zeitgeist, flog er trotz fachlicher Kompetenz von der Universität.

Neue Verbindungen bilden

«Alle deutschsprachigen Universitäten blieben mir ab sofort verschlossen. So übersiedelte ich eben nach London.» Was dort geschah, sei ihm kaum im Gedächtnis geblieben: «Frühe Wendepunkte im Leben sind sehr viel prägender. Das Gedächtnis verformt zwar diese Erinnerungen, so dass sie zwar unzuverlässiger, für die Person aber wichtiger sind als spätere Ereignisse.» Die Rückkehr aus England nach 1975 sei für sein eigenes Schicksal nicht mehr so bedeutend gewesen. Sein Sohn sei trotz des chaotischen Lebensstils des Vaters ein bekannter Radiologe geworden.
Bei den Jüngeren gelte es abzuwarten: «Da die Hirnchemie sich nach dem Abbild der Mutter aufbaut, haben sie wohl ein strukturierteres Vorgehen als ich», lacht er. Doch auch die Umgebung sei nicht zu unterschätzen, denn sie bewirke die plastische Anpassung des Gehirns. Birbaumer etwa wurde im wissenschaftlichen Feld wie «nebenbei» Professor für Medizinische Psychologie, Verhaltensbiologie und Magnetoenzephalographie – mit glühendem Interesse für die neuronale Plastizität. Er erforschte, wie man kriminelle Psychopathen – Mörder oder Vergewaltiger – zu besseren Menschen machen kann. Weltweit war er der Erste, der völlig Gelähmten, sogenannten «Locked-in»- Patienten, beibrachte, mit der Kraft ihrer Gedanken auf einem Computer Worte zu schreiben. Er trainierte Schlaganfallopfer, eine Prothese und später wieder ihre Hand zu steuern. Er lehrte Epilepsie-Patienten, Anfälle mithilfe ihrer Hirnströme zu kontrollieren.

Als Pensionierter erforscht er heute für die Wyss-Stiftung Schnittstellen zwischen Gehirn und Computer, die es Schwerstbehinderten ermöglichen, zu kommunizieren oder über Elektroden im Gehirn direkt ihre Prothesen zu bedienen. Die Auszeichnungen für seine Leistungen interessieren ihn wenig. Ihn reizen Menschen am Rande der Gesellschaft oder hoffnungslose Fälle. Gebiete, die viele seines Faches meiden: «Doch unser Gehirn verfügt über fast grenzenlose Potentiale, nur wenig ist festgelegt, das meiste wird geformt. Dadurch haben wir grossen Einfluss auf unser Denken und Handeln.»     

Buchtipp: Niels Birbaumer: Dein Gehirn weiss mehr als du denkst. Ullstein, 2015. 272 S., CHF 18.90.
www.wysscenter.ch