Warum Völle uns nicht zwingend satt macht
Trotz Überangebot können wir an Mangel leiden. Ist es die falsche Nahrung - oder zu viel derselben - können wir sie weder gut verdauen noch verwerten. Dieses tragische Paradoxon ist auf Nahrungsmittel, genauso wie auf geistige Informationen übertragbar. Es ist nicht die Quantität die entscheidend ist, sondern die Qualität und die Art, wie wir uns die Inhalte einverleiben können. Kolumne.
Ich gestehe! Einmal mehr habe ich mich schamlos überessen und fühle mich trotzdem ausgehungert. Ich leide an «Informations-Adipositas» und bewege mich in Richtung Burnout. Dabei gehöre ich zu den Menschen, die sich nicht übermässig informieren. Doch auch «viel Weniges» summiert sich zu einer unverdaulichen Menge. Eine Nachricht hier, ein Sinnbildchen dort, schnell durch ein Video gezappt, ein Blick in Statistiken und Beweisführungen, und schon ist ein Teil meiner wertvollen Lebenszeit dahingeflossen. Lebenszeit, in der ich in Denkwelten anderer Menschen und digitale Medien eintauche, statt mit meiner eigenen Wahrnehmung oder der sinnlich greifbaren Umwelt verbunden zu sein. Dabei bleibe ich übersättigt und trotzdem leer zurück.
Doch wie sieht meine tägliche «Informationsdusche» aus? Neugierig wie ein Kind vor Weihnachten öffne ich das Mailprogramm, um enttäuscht festzustellen, dass die Post grösstenteils aus Rechnungen, Werbung, Umfragen und Petitionen besteht. Ergänzt durch Berichte und Videos zu politischen oder gesundheitlichen Themen. Alle gleichermassen wichtig, buhlen sie um meine Aufmerksamkeit. Doch woher - bitteschön - soll ich die Stunden hernehmen, mich seriös damit zu befassen? So vermehren sich meine virtuellen Pendenzen zu einem bedrohlich anwachsenden Berg.
Bei zig Gruppen auf Telegram, Instagram oder Facebook werden oft dieselben Infos im Kreis herumgeboten und selbst, wenn ich sie mir nach dem Zufallsprinzip anschaue, werde ich von den Inhalten zeitlich und energetisch absorbiert. Hiobsbotschaften zuhauf, stimmungsmässig herunterziehend, doch auch wunderschöne, tiefsinnige Sprüche werden in einer solchen Fülle geteilt, dass ihr Wert inflationär wird. Zudem ist das Eintauchen in Parallelwelten anstrengend, umso mehr wenn diese aus verschiedenen, oft konträren Meinungen und Weltbildern bestehen.
Bei WhatsApp, Messenger und Signal sieht es mengenmässig ein wenig gesitteter aus. Allerdings sind Hilferufe und Gesprächseinladungen von befreundeten Menschen sowie Infos oder Einladungen zu Aktivitäten anspruchsvoller, weil sie direkt an mich gerichtet sind. Zudem wird jede Information mit einem akustischen Signal angekündigt, was den Alltagsablauf kurz unterbricht und mich immer wieder ablenkt. Ich ertappe mich bei einem zwanghaften Blick aufs Handy, weil ich ja Wichtiges verpassen könnte.
Wir behandeln Informationen gleich wie Waren. Wir werden süchtig nach immer mehr Wissen, haben Angst, etwas Wichtiges zu verpassen und glauben, irgendwann endlich allumfassend informiert und zufrieden zu sein. Wir rennen dauernd unserem vermeintlichen Glück hinterher, ähnlich wie in Berthold Brechts «Dreigroschenoper» beschrieben: «Alle rennen nach dem Glück, das Glück rennt hinterher.» Unser Konkurrenzdenken verzettelt uns zusätzlich; jede und jeder kocht sein eigenes Süppchen, anstatt sich zusammenzuschliessen und am selben Strick zu ziehen, um im realen Leben etwas zu bewirken.
Doch was führt uns aus diesem, immer schneller drehenden Strudel hinaus? Der Impuls, Computer, Laptop und Handy aus dem Fenster zu schmeissen, fühlt sich zwar befreiend an, ist aber keine Lösung. Die «Kogi» aus Kolumbien, die gemeinsam mit uns «zivilisierten» Menschen nach Lösungen für gemeinsame Probleme suchen, raten davon ab, sich von der Technik absolut abzuwenden. Vielmehr sollten wir sie als Werkzeug brauchen und die «tote Technik» zu einer lebendigen machen, damit sie dem Leben dient und nicht schadet.
Ein kurzzeitiger «Digital-Detox» - mit Aufenthalten in der Natur - kann heilsam sein; so kommen wir wieder ins eigene Spüren und sinnliche Erleben der materiellen Umwelt. Mit der Distanz gewinnen wir Klarheit und können unsere Medien durchforsten und ähnliche Kanäle ausmerzen. Indem wir uns fragen, was der eigentliche Mehrwert bestimmter Informationen ist - und welche davon uns gute Energien bescheren - gelingt es uns schliesslich, zwischen wichtig und unwichtig zu unterscheiden.
So, wie wir achtsam mit unserer Nahrung umgehen sollten, damit sie uns wirklich nährt, genauso müssten wir es auch mit Informationen tun.
Zeitpunkt-Bericht: Kogi
Mirjam Rigamonti Largey aus Rapperswil in St. Gallen ist Psychotherapeutin, hat Psychologie, Religions-Ethnologie und Ethnomedizin studiert, arbeitet als Kunstschaffende, freie Schriftstellerin und als Friedensaktivistin.
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