Wer hat, der wird verlieren
Die tragische Geschichte der Ungleichheit – wie Kriege, Revolutionen, Staatsversagen und Seuchen immer wieder für «Chancengleichheit» sorgten. Ein wegweisendes Opus von Walter Scheidel.
Die wachsende Ungleichheit ist die grosse historische Konstante seit Beginn der Sesshaftigkeit. «Wer hat, dem wird gegeben», heisst es denn auch schon in der Bibel. Ebenso konstant ist allerdings auch die gewaltsame Auflösung dieser Ungleichheiten, die Nivellierung zwischen Reich und Arm.
Dazu hat der österreichische, an der Stanford University lehrende Historiker Walter Scheidel ein veritables opus magnum vorgelegt: «Nach dem Krieg sind alle gleich – eine Geschichte der Ungleichheit». Das Werk ist weniger wegen seiner knapp 700 Seiten harte Kost, sondern vielmehr wegen seines Inhalts. Nach 300 Seiten musste ich eine Pause einlegen und mich erfreulicheren Dingen zuwenden. Die nicht enden wollenden historischen Beispiele für die vier apokalyptischen Reiter, die bis jetzt noch jede Ungleichheit beseitigten – Kriege, Revolutionen, Staatsversagen und Seuchen – schlagen aufs Gemüt und dunkeln leider auch die Zukunft ein.
Jede wirksame Nivellierung der Geschichte war von Anwendung oder Androhung von Gewalt und meist mit sehr viel Zerstörung und menschlichem Leid verbunden. Jede. Es gibt zwar gerade auch in jüngerer Zeit einige Beispiele, als ausgerechnet die Amerikaner in Südkorea und Lateinamerika Landreformen anregten und sogar finanzierten, um dem Kommunismus den Boden zu entziehen. Aber nachhaltig waren sie nicht. Und wenn sie wirksam geworden wären, wurden sie gestoppt, wie in Chile unter Salvador Allende.
Wir dürfen hoffen, aus dieser lückenlosen historischen Kette von Aufbau und Zerstörung die richtigen Schlüsse zu ziehen. Aber die Chancen, daraus wirksame Massnahmen zu entwickeln und diese vor allem durchzusetzen, sind so winzig, dass sie ohne Wunder auszuschliessen sind. Dabei haben die beiden Weltkriege und die Revolutionen des 20. Jahrhunderts mit über 100 Millionen Todesopfern und noch nie dagewesener Zerstörung zu einer historisch einmaligen Nivellierung geführt. Wir Gegenwärtige sind in einer beispiellosen Chancengleichheit aufgewachsen und halten sie in gewisser Hinsicht für normal. Aber seit 1983 ist die Trendumkehr statisch greifbar und hat seither weltweit zu einer dramatischen Konzentration des Reichtums geführt. Chancen hat nur, dessen Eltern sie nutzten.
Walter Scheidel bleibt die Antwort auf eine wichtige Frage schuldig (die er als Thema einer weiteren grossen Arbeit bezeichnet): Wie baute sich die Ungleichheit nach jedem Zusammenbruch wieder auf? Hier wünschte man sich ein vertieftes Verständnis des Zinses und des Geldwesens, das der Autor jedoch nicht ins Spiel bringt. Speziell der Zins ist ein omnipotenter Umverteiler von den Arbeitenden zu den Vermögenden, der ohne Korrektur über die Zeit zu einer quasi totalen Macht der Elite und der Abhängigkeit der Armen von ihren Almosen führt. Diese verheerende Dynamik wussten schon die alten Sumerer mit einem periodischen Schuldenerlass zu brechen.
Die wachsende Ungleichheit ist auch eine zwingende Folge der Besitzverhältnisse. Vermögensunterschiede können sich nur mit Überschüssen entwickeln, also dem, was über dem eigenen Verbrauch liegt. Es versteht sich von selbst, dass diese Überschüsse dem Grund-, Fabrik- oder Kapitalbesitzer zufallen, solange sie nicht über Abgaben zumindest teilweise abgeschöpft werden. Freiwillig geschieht dies angesichts der historisch konstanten Vermählung von wirtschaftlicher und politischer Macht nicht.
Die neoliberale NZZ kritisiert in ihrer Rezension von Scheidels Werk das Fehlen der «grossen Frage: Wann und warum überhaupt gilt ökonomische Ungleichheit als verwerflich?» Hätte der Rezensent für den Wirtschaftsteil anstatt für das Feuilleton geschrieben, wäre die Antwort auf der Hand gelegen. Eine einigermassen freie Wirtschaft funktioniert nur, wenn die Arbeitskräfte genug zu essen haben, um arbeiten zu können und wenn die Konsumenten genug Geld haben, um die Produktion auch kaufen zu können. Henri Ford wusste das und bezahlte deshalb gute Löhne. Wenn die Arbeiter dagegen hungern und die Konsumenten blank sind, kann das Spiel nur noch mit Zwang aufrechterhalten werden. Dieser Zwang und der wachsende Wettbewerb unter den Eliten sind vermutlich der wichtigste Grund für die gewaltsamen Erschütterungen, die die Geschichte durchziehen. Eine systematische endogene Ursache für die Umwälzungen möchte Scheidel trotzdem nicht bestätigen; zu oft standen Angriffskriege von aussen am Anfang.
Scheidels Buch ist voluminös und detailreich, aber verständlich geschrieben. Man kann, ja man muss es deshalb allen zur Lektüre empfehlen, die noch irgendwelche Zweifel an der Dramatik der Weltlage haben oder glauben, es werde sich alles schon noch richten. Man kann die Zukunft nur gestalten, wenn man die Vergangenheit verstanden hat.
Walter Scheidel: Nach dem Krieg sind alle gleich – eine Geschichte der Ungleichheit. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2018. 687 S. Geb. Fr. 48.90/EUR 38.- («The Great Leveler», 2017, Princeton University Press)
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