Wir singen nicht mehr. Wir lassen singen. Pausenlos träufeln die Melodien durch weisse Knöpfe in unser Ohr. Die Sänger und Sängerinnen singen für uns – während wir selber uns damit begnügen, zu reden. Dabei wäre Singen so einfach. Kolumne.

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Ich erinnere mich, dass die italienischen Bauarbeiter in meiner Kindheit, auf den Gerüsten stehend, gesungen haben. Ich erinnere mich, dass Passagiere im Zug plötzlich zu singen begannen. Ich erinnere mich, dass auf der Strasse Menschen irgendein Lied vor sich hinträllerten. Und ich weiss noch, dass ich mit dem Fahrrad zur Schule fuhr und unterwegs, im Fahrtwind, meine eigenen Lieder sang.

In aller Öffentlichkeit wurde gesungen – aber keineswegs für die Öffentlichkeit. Niemand, der sang, erwartete dafür ein Publikum. Man sang einfach so. Man sang aus Freude, aus Lebenslust und zum Zeitvertreib. Auch gemeinsam wurde gesungen, nicht nur in der Schule oder im Männerchor, nicht nur in der Kirche und überall dort, wo der Brauch es so wollte, nicht nur mit der Familie unter dem Christbaum, sondern bei jeder Gelegenheit und sowieso immer dann, wenn jemand eine Gitarre mitgebracht hatte: im Ferienlager, am Strand, am Lagerfeuer und beim Abendrot vor der SAC-Hütte.

Seither sind viele Jahrzehnte vergangen. Die Welt der Musik hat sich verändert, und auch die Welt der Technik hat sich verändert: Auf den Radiokasten im Wohnzimmer folgte das Kofferradio. Auf das Kofferradio folgte der tragbare Plattenspieler. Als nächstes kam der Kassettenrecorder, als nächstes der Walkman und heute hören wir alle Musik aus dem Smartphone.

Musik mit Gesang. Die Sänger und Sängerinnen am Radio, auf Spotify, iTunes und YouTube – sie haben es übernommen, für uns zu singen. Für uns alle. Auch für den Arbeiter auf dem Baugerüst.

Er selber singt nicht mehr. Niemand singt mehr. Wir sitzen im Auto, im Gedränge der S-Bahn, im Wartezimmer, unterwegs in die Schule, unterwegs in die Ferien, wir joggen, wir schreiben, wir schreinern, verkaufen, sortieren, wir sind beschäftigt – und hören den Sängern beim Singen zu. Vom Erwachen am Morgen bis spät in den Abend begleiten sie uns. Ihre Stimmen dringen durch weisse Knöpfe in unsere Ohren und von den Ohren in unser Herz, und sie tun uns gut, sie beglücken und trösten uns, sie spornen uns an und beruhigen uns, sie geben uns viel mit ihrer Musik.

Doch wir selber singen nicht einmal mit. Nur bei Livemusik an Konzerten vielleicht, ein paar Mal im Jahr. Oder nur dann, wenn wir ungestört sind. Im Auto vielleicht. Zuhause im Bad. Wenn uns garantiert niemand hören kann. Dann getrauen wir uns. Sonst aber gehen wir stumm aneinander vorbei, mit unseren weissen Knöpfen in unseren Ohren, und keiner singt. Keiner will stören. Keiner glaubt, stören zu dürfen.

Wir sind es schon so gewohnt, dass andere für uns singen – wieso sollten wir selber singen? Wir lassen singen. Ich lasse singen. Jeder hört genau die Musik, die er hören will. Wir müssen mit niemandem teilen. Nichts Neues, nichts Unbekanntes schafft es, bis zu uns vorzudringen. Jeder bewegt sich nur noch in seiner eigenen unangreifbaren musikalischen Kapsel. Jeder ist darin gefangen.

Aber das Traurigste kommt noch: Wenn die Sänger für uns singen, dann sind sie unser Gesang. Dann sind sie unsere Stimme. Unsere Singstimme. Und wenn wir uns darin einig sind, dass Singen – harmonisches Singen – etwas Gemütvolles ist, dann sind die Sänger unser Gemüt. Weil wir selber keines mehr haben.

Deshalb hören die meisten Menschen heute soviel Musik. Deshalb lassen sie sich, wann immer sie die Möglichkeit dazu haben, den ganzen Tag von Musik beträufeln. Die Melodien rinnen in ihre Ohren wie eine Infusion in ihr Blut rinnt. Die Quelle darf nie versiegen. Wir sind Süchtige. Süchtig nach Melodie, nach Gesang. Die Musik ist der Sauerstoff, den uns die Masken verweigern. Sie ist das Gemüt, das uns fehlt.

Warum fehlt es uns? Warum singen wir nicht mehr?

In den ganz alten Zeiten, als die Menschen dem Himmel noch näher waren, haben sie nicht gesprochen, sondern gesungen. In einer Art Singsang haben sie sich miteinander verständigt. Und noch lange danach haben die Barden, die Geschichtenerzähler ihre Geschichten nicht bloss erzählt, sondern gesungen. Doch je mehr sich die Erdenbewohner mit der Erde verbunden haben, je mehr aus Herzensmenschen Verstandesmenschen geworden sind, um so weniger haben sie noch gesungen. Nur die Sänger haben das Erbe des singenden Menschen bewahrt. In den Songs, die wir hören, lebt eine tiefe Vergangenheit wieder auf.

Wenn wir reden, benutzen wir den Verstand. Doch wenn wir singen, singen wir aus dem Herzen. Die Melodie verzaubert die Worte. Sie haucht ihnen Seele ein.  Deshalb lieben wir gesungene Worte mehr als gesprochene Worte. Deshalb wird mehr Musik gehört als gelesen. Deshalb pilgern Tausende an ein Festival, aber nur wenige besuchen eine Autorenlesung. Nicht die Autoren, sondern die Sänger sind die wahren Poeten von heute.

Wir singen nicht mehr. Wir lassen singen. Aber das muss nicht so bleiben. Die Welt ist im Umbruch, und wir alle, wenn wir es wollen, können das Singen wiederbeleben, und es wäre kein Schritt zurück, sondern ein Schritt aus dem Heute ins Morgen. Vielleicht entdecken wir neue Lieder, aber auch die alten dürfen wir wieder singen. Einige haben damit schon begonnen. Es ist ganz leicht:

Summe einfach nur vor dich hin. Singe, was dir gerade einfällt.

*

Warum mache ich mir diese Gedanken? Weil ich vor einigen Tagen eine liebe Seelenverwandte in ihrem Bündner Dörfchen besuchte. Sie lebt dort noch immer mit ihrem Mann, der inzwischen schon über 80 ist – und stark sehbehindert. Er kann nicht mehr lesen, und das Dorf verlässt er selten, doch er lebt nach wie vor gern. Als ich mich von den beiden verabschieden wollte, bat er mich, einen Augenblick noch zu bleiben. Er wolle mir etwas singen.

Und so sass ich in dieser gemütlichen Stube, vor den Fenstern das unvergängliche Bergpanorama, und lauschte den Liedern, die der Mann, am Klavier begleitet von seiner Frau, für mich sang. Nur für mich. Sobald ich den Text begriff, stimmte ich in den Refrain ein, und während ich zuerst zaghaft, dann immer sicherer meine Lippen bewegte, wurde mir klar, wie lange ich nicht mehr gesungen hatte.