Individuelle Freiheit – ein Reizthema mit Gewaltpotenzial in Wort und Tat

Wir sitzen im goldenen Käfig und rebellieren gegen die Gitterstäbe, die wir uns selbst geschmiedet haben. Je mehr individuelle Freiheit wir geniessen, desto mehr Ungerechtigkeiten erkennen wir. Unsere Empfindlichkeiten arten in gesellschaftliche Phobien aus. Kolumne.

© Illustration von Andreas Beers

Unsere zunehmende Freiheit führt zu modernen Kreuzzügen gegen uns selbst und die Welt: Wir kämpfen gegen die Klimaerwärmung, gegen biologische und digitale Viren, gegen Nationen, gegen Ethnien, gegen Sprache. Der Geschlechterkrieg im digitalen Netz tobt dabei in Wort und Tat. Wir leben zwar nicht mehr in einem Patriachat, jedoch nach wie vor in patriarchalen Denkmustern, und diese existieren offensichtlich in den Köpfen aller Geschlechter. Krieg als Methode, um Freiheit oder Gleichberechtigung herzustellen, war historisch betrachtet noch nie zielführend.

Nur die individuell errungene seelische Stärke des Menschen führt zu friedlichen Verhältnissen. Weder durch religiöse, herrschaftliche oder staatliche Strukturen konnten in der Vergangenheit über längere Zeit hinweg Frieden, Sicherheit oder Gleichberechtigung herbeigeführt werden. Wirksame Impulse in der Weltgeschichte, welche zu friedvollen Veränderungen in diesem Zusammenhang führten, gingen immer von einzelnen Persönlichkeiten aus. Um nur einige zu nennen: Hannah Arendt, Sophie und Hans Scholl, Aung Suu Kyi, Shirin Ebadi, Rosa Parks, Martin Luther King, Mahatma Gandhi, Wladimir Solowjow, Jeanne d'Arc, Marc Aurel.

Ein auffälliges und historisch offensichtliches Phänomen dabei ist: Die Visionärinnen und Visionäre erlebten in der Regel nie den Erfolg ihres Impulses. Sie wurden fast alle, entweder von den jeweils «Herrschenden» oder von der «Masse» selbst, die sie in Bewegung brachten, ermordet. Der gesellschaftliche Wandel kam, wenn überhaupt, erst viel später zum Tragen.

Heute, wo wir in Westeuropa historisch gesehen eine individuelle Freiheit geniessen wie noch nie in der Geschichte, erleben wir vom Individuum ausgehenden «digitalen Rufmord» mit grotesken Ausmassen. Jeder plärrt seine Meinung und Emotionalität ins globale Netz. Ist das ein Fortschritt, der uns weiterhilft? Die dadurch entstandene Überreiztheit unserer Gemüter, gepaart mit einer ausufernden Empfindlichkeit, führt zu irrealen, kollektiven Angstblasen mit eigenartigen Forderungen an die globale Community: noch mehr Regeln, Kontrolle und Zensur.

Unsere errungene Freiheit scheint uns selbst zum Hindernis geworden zu sein: Freier Handel zerstört nationale Ökonomien, weltweiter Fortschritt führt zur Umweltzerstörung, das Streben nach Gleichberechtigung führt zum Geschlechterkrieg, freie Meinungsäusserung führt zu Rufmord, Begriffs- und Sprachzensur. Bevor ich spreche oder schreibe, muss ich mir heute gut überlegen, ob ich damit nicht einen Menschen irgendwo auf der Welt in seiner Empfindlichkeit treffe. Was früher im direkten Zwischenmenschlichen austariert wurde, soll nun global geregelt werden. Welch ein Freiheitsirrtum.

Was fehlt uns denn, dass wir auf die zunehmende globale und individuelle Freiheit mit immer grösserer Empfindlichkeit reagieren? Um dies zu verstehen, möchte ich die aktuelle Lage mit Achtung für – jedoch absehend von – individuellen Situationen phänomenologisch-objektiv betrachten: Die beschriebene Überreiztheit halte ich für eine Folge unseres Medienkonsums und dem damit einhergehenden virtuellen Denkverhalten. Wir fördern dieses rund um die Uhr, durch unsere virtuelle Dauerpräsenz im medialen Raum – ob beim Essen, bei der Arbeit, auf der Toilette oder beim Sex: Daumen hoch, Smiley oder Herzchen, das toppt uns. Die Folge davon ist, dass wir nicht reale, sondern passiv erlebte Empfindlichkeiten ausleben. Was dabei fehlt, ist das reale Ereignis und die Auseinandersetzung, durch welche wir befähigt werden, eine seelische Resilienz zu bilden.

Resilienzbildung bedeutet: Die eigene und fremde Freiheit mit allen ihren Konsequenzen im realen Leben aushalten zu lernen. Dies nenne ich aktive Empfindsamkeit, im Gegensatz zur passiven Empfindlichkeit. Lernen wir dies nicht, hat der Kampf im Innen wie im Aussen nie ein Ende, egal bei welchem Thema.

 

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Andreas Beers aus Bern ist Landwirt, Arbeitsagoge und Lehrer. Er kultiviert die Erde, sät und erntet, er denkt, spricht und schreibt über: Mensch, Erde und Himmel, oder was wir zum Leben brauchen.

«Mit dem Abbau sozialer Ungerechtigkeiten erhöht sich gleichzeitig die Sensibilität gegenüber Ungleichheiten». (Das Tocqueville-Paradoxon: Alexis Chales-Henri-Maurice Clérel de Tocqueville 1805-1859, franz. Publizist, Politiker und Historiker)