Meine Grossmutter, die Russen und die Angst...
... oder warum es hilfreich sein kann, Ordnung in seine Gedanken zu kriegen und zu verhindern, dass Geister der Vergangenheit die Gegenwart dominieren und die Zukunft bestimmen. Kolumne.
«Wenn bloss nicht die Russen kommen…!» pflegte meine Grossmutter in meiner Kindheit fast mantraartig zu wiederholen. Ich wunderte mich, weil ich weit und breit keine Russen sehen konnte und ich Kriege nur aus Erzählungen der alten Leute und später aus dem Geschichtsunterricht kannte. Russen waren für mich Menschen wie wir, oder wie Afrikaner, Inder, Araber, die ich, obwohl ich sie selber nicht kannte, mit spannenden Geschichten verband.
Später, als ich anfing Bücher zu verschlingen, warnte mich meine Grossmutter eindringlich davor, zu viel zu lesen. Sie hatte nämlich jemanden gekannt, der vor lauter Studieren verrückt geworden sei. Da ich diese Gefahr noch weniger nachvollziehen konnte, begann ich spätestens jetzt, nicht mehr alles zu glauben, was mir die Erwachsenen auf die Nase binden wollten. Ich machte mir Gedanken über meine Grossmutter und über die Welt, und fand einiges sehr merkwürdig:
Warum dann wurden Waffen gesegnet und Religionskriege geführt?
Da diskutierten erwachsene Männer – damals wurden die Frauen noch mehrheitlich an den Herd verbannt – in vollem Ernst über Kriegsstrategien, Angriffstaktiken und kamen sich dabei sehr klug vor. Es hörte sich gleich an, wie wenn Experten über Fussballpartien debattierten. Bloss, dass das hier kein Spiel war und Menschen einfach mal schnell getötet wurden. Und das ohne, dass Krieg an sich in Frage gestellt wurde, und obwohl ich im Religionsunterreicht gelernt hatte, dass Töten eine der schlimmsten Sünden sei. Warum dann wurden Waffen gesegnet und Religionskriege geführt? Und warum wurde mir in der Schule nicht erlaubt, solche Fragen zu stellen? Ich musste bloss fraglos schlucken und wiederkäuen, was mir vorgesetzt wurde.
Was mit meiner Grossmutter begann, scheint sich heute zu wiederholen. Mit dem aktuellen Krieg in der Ukraine ist diese uralte Angst vor den Russen wiederauferstanden und läuft Gefahr, sich in unseren Köpfen wiederum ins Monströse zu erheben. Wenn wir nicht wachsam sind, übernehmen wir unbewusst die Ängste unserer Vorfahren und steigern diese in der aktuellen Situation zu einer explosiven Mischung.
Doch Angst hindert uns, klug und besonnen auf Gefahren zu reagieren und vernünftige Lösungen zu finden. Genauso wie mit Corona mittelalterliche Ängste vor der Pest wieder aktiviert und meines Erachtens die Gefahren um ein Vielfaches gesteigert wurden, genauso laufen wir Gefahr, dieses traurige Kriegsgeschehen zu einem apokalyptischen Inferno hochzustilisieren. Doch wir müssen uns gewahr werden, dass wir in einer andern Zeit leben. Zwar sind die Waffen um einiges potenter, als zur Zeit der beiden Weltkriege, doch das ist auch den Kriegsparteien bewusst, und ich behaupte, dass sie selber auch jedes Interesse haben, zurückhaltend zu sein, weil sie ja auch ihre eigene Zukunft gefährden würden.
Es würde uns gut tun, zu unterscheiden, was realistische Gefahren sind und was sich in unseren Köpfen aufbaut. Sonst könnten wir beim kleinsten Propaganda-Funken sensationslüsterner Berichterstatter in kopflose Panik verfallen und erst recht überreagieren.
Ich verstand die Angst meiner Grossmutter nicht, weil ich keine reale Bedrohung ausmachen konnte. Statt einfach das Leben zu geniessen und sich mit realen Gefahren auseinanderzusetzen, liess sie sich Lebensfreude und Leichtigkeit durch düstere Gedanken-Monster vermiesen. Doch ich bin ihr dankbar, weil ich durch sie gelernt habe, mich nicht durch Ängste bestimmen zu lassen. Ich versuche, weder in einer bedrückenden Vergangenheit, noch in einer sorgenvollen Zukunft zu leben, sondern freudvoll im JETZT!
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Mirjam Rigamonti Largey aus Rapperswil in St. Gallen ist Psychotherapeutin, hat Psychologie, Religions-Ethnologie und Ethnomedizin studiert, arbeitet als Kunstschaffende, freie Schriftstellerin und als Friedensaktivistin.
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