«Meine Trompete spielt, was ich nicht mit Worten sagen kann»

Wie gehen Kunstschaffende mit der Krise um? Der Zeitpunkt will den Puls von Künstlern und Kulturveranstaltern spüren und sie sichtbar machen. Heute erzählt Peter Schärli, Jazzer und Trompeter, wie sein derzeitiger Alltag aussieht, was er für Pläne hat und wieso er weniger optimistisch ist, als er auch schon mal war.

© Hugo Schlüssel / zvg

Weit weg hätte es gehen sollen, einmal mehr – wäre Corona nicht gekommen. Denn Peter Schärli ist seit Jahren international gefragt. Zu seinem Leben gehören wiederkehrende Konzerte in fernen Ländern. Unter anderem in Brasilien. Oder in Bolivien, wo er in der Jazzszene ein beliebter, alter Bekannter und geschätzter Musiker ist. «Jedoch ist aus der Tournee in Übersee sowohl letztes als auch dieses Jahr nichts geworden», sagt der Trompetenspieler. Die Veranstalter hätten mehrere Konzerte abgesagt, schlussendlich seien zu wenige übrig geblieben. «Ich kann es mit meinem Gewissen nicht mehr vereinbaren, wegen vier oder fünf Konzerte auf einen anderen Kontinent zu fliegen.»

Aber die fernen Länder finden sich am Ende dort, wo Schärli ist – in ihm selbst und in seiner Musik. Ein Journalist beschrieb ihn mal so: «Weltmann und Eigenbrödler in einem» oder «bodenständiger Melancholiker» oder «handfester Träumer». Schärli findet diese Bezeichnungen in sich schlüssig, «in diesen Gegensätzen kann ich mich erkennen», sagt der Jazzer. «Das Leben um mich und in mir klingt auch in meiner Musik auf. Darin verdichten sich Eindrücke und Wahrnehmungen von Wanderungen durch mein Leben, durch ferne Länder und Kulturen.» Reisen also tut der 65-Jährige auf seine Weise ohnehin, auch wenn er in seinem Schweizer Studio bei sich zu Hause in Aarau probt und musiziert.

«Dieser weite Trompetenton von Miles Davis war für mich eine Offenbarung.»

Schärli, geboren und aufgewachsen im luzernischen Schötz, wohnt mittlerweile seit über vierzig Jahren im Kanton Aargau, seit 1999 in der Stadt Aarau. Wenn man ihn danach fragt, wie er zur Musik gefunden hat, sagt er: «Ich hatte keine Wahl, ich musste! Mir blieb nichts anderes übrig, denn alle Versuche, einen ‹anständigen Beruf› zu erlernen, scheiterten.» Er erinnert sich daran, dass in seinem Elternhaus eine Schallplatte von Louis Armstrong im Regal stand. «Schon mit fünf oder sechs Jahren wollte ich sie dauernd hören.» Auch wünschte er sich bereits in diesem Alter unbedingt eine Trompete. Mit zehn Jahren waren es dann so weit: Er bekam eine Trompete.

Als er dann ein wenig später das Album «Porgy und Bess» von Miles Davis entdeckte, tauchte er definitiv in ein neues Universum ab. Da war er zwölf Jahre alt. «Es ist bis heute die Platte, die ich wohl am meisten angehört habe», versichert er. «Dieser weite Trompetenton von Miles Davis war für mich eine Offenbarung: Licht und Dunkelheit, Kälte und Wärme, Ruhe und Aufbäumen, Sehnsucht nach Liebe, nach Leben... in diesem Ton ist einfach alles vorhanden.» Und da wurde ihm klar: Er will Musiker werden. Die Swiss Jazz School in Bern schloss er schliesslich 1981 erfolgreich ab. Seither hat er in zahlreichen Bands mitgewirkt, auch in seinen eigenen, arbeitete in unzähligen Projekten und Produktionen mit, auch im Theaterbereich.

«Zu den Musikern, die jetzt ab und zu auf dem Balkon oder im Garten spielen, will ich nicht gehören.»

Und nun? Was macht der leidenschaftliche Musiker während der Coronakrise? Produzieren. Er habe eine neue CD aufgenommen. «Die Konzerte sind abgesagt. Es ist mir verboten worden, meinen Beruf auszuüben», so Schärli. Andere Möglichkeiten, seine Musik vorzustellen, stünden bei ihm ausser Diskussion. «Zu den lustigen, originellen Musikern, die jetzt ab und zu auf dem Balkon oder im Garten spielen und singen oder im Netz den Clown machen, will ich nicht gehören», sagt er lakonisch. Klar, räumt er ein, es gebe da auch gut produzierte und professionelle Beiträge, aber die seien selten. Schärli: «Ich denke, nichts kann ein Live-Erlebnis ersetzen.» Umso glücklicher ist er nach den fehlenden Auftritten, dass in diesem Frühling seine CD Give erscheint. «Das ist ein Lichtblick», sagt er. Peter Schärli Trio featuring Glenn Ferris. Der US-amerikanische Posaunist Ferris gehört zu den wenigen Weltklasse-Musikern, «die von sich behaupten können, noch mit dem genialen Frank Zappa gespielt zu haben».
 

Glenn Ferris and Peter Schärli live. (Foto Dragan Tasic)


Live, das ist lange her. Wann darf man wieder auf einen Auftritt von Schärli hoffen, auf einer Bühne, mit Publikum? «Im März», sagt der Musiker, und fügt an: Inschallah. «Es sind fünf Aufführungen mit dem Theaterstück ‹Der Bummler› geplant.» Eine Geschichte aus dem jazzigen Hinterland der Schweiz. Schärli hat zum Stück die Musik komponiert und zusammen mit Musikjournalist Pirmin Bossart und Schauspieler Werner Bodinek die Geschichte geschrieben. Diese Veranstaltungsdaten sind lediglich ein paar, die im März auf der Liste des Trompeters stehen. Die weiteren Massnahmen des Bundesrates werden zeigen, ob es zu all den geplanten Events kommen wird.

«Mein Leben ohne Konzerte ist nicht schön.»

Obwohl Schärli normalerweise grundsätzlich positiv gestimmt durchs Leben geht, muss er momentan einräumen: «Mein Leben ohne Konzerte ist nicht schön.» Er vermisse die Menschen, die er jeweils an den Konzerten antreffe, und das Spielen mit den Musikern und Musikerinnen sehr. «Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich nicht mehr so motiviert zum Üben.» Dazu komme, dass er seit vielen Jahren nicht mehr so gut gebucht gewesen wäre wie in letzter Zeit. «19 Auftritte sind mir abgesagt worden, im Frühling und Sommer vor einem Jahr waren es sogar 21.»

Die Massnahmen des Bundes und der Umgang seit der Krise mit Andersdenkenden hinterlassen bei ihm ein mulmiges Gefühl. «Ich weiss nicht, ob diejenigen, die uns diese drastischen Einschränkungen ‹aufzwingen›, ob die wissen, was sie tun.» Der viel Gereiste sagt: «Wir sollten unsere Sinne schärfen und nicht alles glauben, was berichtet wird. Es gibt nicht nur eine Wahrheit. Wohlverstanden, es geht mir absolut nicht um eine Corona-Verharmlosung!» Jedoch sei es schon seltsam, was der Mensch mit sich machen lasse, «wenn man ihm vorher so richtig Angst macht».

Ihm geht es um die Folgen. In den ärmsten Regionen der Erde würde in naher Zukunft erwartet, dass Millionen Menschen zusätzlich an Hunger sterben werden. Aber auch in der Schweiz, fährt er fort, werde es unvorstellbar mehr Arbeitslose und Arme geben. «Das passt doch wunderbar, gerade richtig für den Kapitalismus: um noch billigere Arbeitskräfte zu rekrutieren, um noch billiger produzieren zu können, um noch mehr Gewinne zu generieren.»

Wenn Peter Schärli gefragt wird, wieso er Musik macht, dann erklärt er sein Schaffen gerne mit einem Zitat des französischen Schriftstellers Victor Hugo, das er ein wenig umformuliert: «Mit der Trompete drücke ich das aus, was nicht gesagt werden kann und worüber zu schweigen unmöglich ist.»
 

 

Schärli ist zwar nicht existentiell bedroht durch das gegenwärtige Arbeits- und Auftrittsverbot, das hierzulande und weltweit vielerorts herrscht. Aber auf Konzerte ist er dennoch angewiesen. «Mit der ‹gekürzten› AHV kann ich als Pensionierter kaum überleben», konkretisiert er. Er besitze keine Ersparnisse. Was ihn zudem sehr beschäftigt: «Was machen all die jungen Musiker und Musikerinnen, die jetzt nicht spielen können? Werden die durchalten können?» Ihnen und anderen Künstlern in dieser Krise was zu raten, das könne er kaum, er sei ja selbst ziemlich deprimiert und glaube nicht, dass es in absehbarer Zeit wieder eine «Normalität» geben werde. «Zum Glück habe ich bei mir zu Hause Wein, Schallplatten, CDs und Bücher.» Damit kommt er erst mal über die Runden.

Er überlegt und fügt schliesslich an: Vielleicht bewirkt die Coronakrise ein gesellschaftliches Umdenken. Vielleicht wird die Welt gerechter. Vielleicht wird der Stellenwert der Kultur in der breiten Bevölkerung und bei den Politikern etwas prominenter. «Es wäre grandios, wenn wir Kunstschaffenden von dem, was wir schaffen, auch leben könnten – die meisten können das nicht! Oder wäre das für die herrschende Gesellschaft zu gefährlich?» Ja, nein, vielleicht. Vielleicht...