Aus dem Podcast «5 Minuten» von Nicolas Lindt.

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Es ist nur ein Wort, nur ein Verb, aber ich habe es noch nie so gelesen, und es lässt mich frösteln. Ein junger Mann aus Libyen hat im Pariser Gare du Nord vor einigen Tagen mit einem Messer wahllos auf Passanten eingestochen und dabei sechs Personen verletzt, eine Person sogar schwer. Danach sei der Täter von der Polizei – ich zitiere wörtlich – neutralisiert worden.

Was heisst das: Er wurde neutralisiert? Erst im nächsten Abschnitt der Meldung wird genauer beschrieben, was mit dem Täter geschah: Zwei Polizisten gelang es, den Angreifer mit mehreren Schüssen ausser Gefecht zu setzen. Er wurde lebensgefährlich verletzt ins Spital gebracht.

Mit anderen Worten: Die Polizei musste Gewalt anwenden. Sie musste den Täter überwältigen. Aber Gewalt ist unschön. Mit Gewalt werden die Finger schmutzig. Gewalt bedeutet, dass der Täter sich wehrte. Damit tut man ihm zu viel Ehre an. Er ist es nicht wert. Neutralisieren tönt besser. Sauberer. Klinischer. Es tönt wie unschädlich machen. Wie wenn Tobende in der Psychiatrie mit der Spritze ruhiggestellt werden. Neutralisieren tönt wie Science Fiction, wie Vaporisieren. Man richtet eine Waffe auf solche Menschen, und sie werden verdampft. Sie lösen sich auf.

Aber das Wort weckt noch andere Bilder in mir. Ein Mensch, der neutralisiert wird, ist kein Mensch, sondern lediglich ein Objekt, eine Sache, eine zu vernichtende Menge. Er wird seines menschlichen Wesens beraubt, seiner Individualität. Er ist ein Nichts. Und er hat mit uns nichts zu tun.

Aber wiegen wir uns bloss nicht in Sicherheit. So wie heute ein verirrter, in Europa gestrandeter Messerstecher neutralisiert wird, so soll es auch uns ergehen. 1984 ist in vollem Gange, wir wissen es. Unangepasste, Individualisten, freie Geister, Menschen, die selbständig denken und handeln, behindern die Pläne des Grossen Bruders, die schöne neue Welt für uns aufzubauen, in der wir nichts mehr besitzen, aber glücklich sein sollen. Der Grosse Bruder braucht Untertanen für seine Pläne. Wir sollen alle zu Mainstream werden. Wir sollen alle zu Neutren werden. Ein neutralisierter Mensch ist ein Mensch ohne Kraft, ein Mensch ohne Willen. Deshalb ist dieses Wort so schlimm. Deshalb lässt es mich schaudern. Auch Wörter sind Waffen. Und manche sind gefährlicher als ein Messer.

Nicolas Lindt publiziert den Podcast «5 Minuten» drei Mal wöchentlich montags, mittwochs und freitags – Gedanken, Beobachtungen, Geschichten. Zu finden auf Facebook, Spotify, iTunes oder direkt auf der Webseite von Nicolas Lindt.

Über

Nicolas Lindt

Submitted by admin on Di, 11/17/2020 - 00:36

 

Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.

Soeben erschienen: «Heiraten im Namen der Liebe» - Hochzeit, freie Trauung und Taufe: 121 Fragen und Antworten - Ein Ratgeber und ein Buch über die Liebe - 412 Seiten, gebunden - Erhältlich in jeder Buchhandlung auf Bestellung oder online bei Ex LibrisOrell Füssli oder auch Amazon - Informationen zum Buch

Weitere Bücher von Nicolas Lindt

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