3 Fragen an Schwester Ariane und Pfarrer Karl Wolf

Viele Menschen stehen jeden Abend im Zürcher Langstrassenquartier stundenlang für ein warmes Essen an. Die Not sei sehr gross, sagt die 48-jährige katholische Schwester Ariane, die den Verein «incontro» gegründet hat, der die Mahlzeiten verteilt. Der 66-Jährige Pfarrer Karl Wolf, ein Freund der katholischen Gemeinschaft Sant’ Egidio, hat die Gassenarbeit von «incontro» mitaufgebaut und ist gemeinsam mit Schwester Ariane in den Strassen unterwegs. Beide sind besorgt über die Zunahme der Hilfebedürftigen. Neu würden sie auch vermehrt Mütter antreffen, die nicht mehr wissen, was sie ihren Kindern kochen sollen, weil sie kein Geld und keine Lebensmittel mehr haben.

Langstrasse in Zürich: Schwester Schwester Ariane und Pfarrer Karl Wolf gehen auf die Menschen zu. © zvg

Zeitpunkt: Sie geben in Zürich Essen an Bedürftige ab, täglich. Wer sind die Menschen, die bei Ihnen anstehen?

Pfarrer Karl Wolf: Wir treffen auf Menschen, betroffen von persönlicher Not, in existentieller Armut, vulnerabel durch Krankheit und Einsamkeit, ohne Familie und ohne soziales Netz. Viele leben ohne Absicherungen, etwa ohne Krankenversicherung. Letzten Dezember fing sich plötzlich eine ganze Reihe von Menschen hinter dem Zürcher 25-Hours-Hotel zu versammeln. Das ist ein Restaurant, das für unseren Verein – wie andere Gastrobetriebe auch – Menus zum Selbstkostenpreis kocht. Immer mehr Menschen kamen dazu, die da die Mahlzeiten abholten: Suchtkranke, Obdachlose, Bedürftige, Flüchtlinge, Wanderarbeiter, Gestrandete sowie Frauen und Männer aus dem Milieu der Prostitution. Dann aber standen neu auch kinderreiche Familien und Alleinerziehende an – Väter und Mütter, die durch die Corona-Krise ihre Arbeit verloren haben. Ihr Erspartes war aufgebraucht, sie wussten nicht mehr ein und aus. Alleinerziehende Mütter erzählten uns: «Ich habe nichts mehr zu Hause. Ich weiss nicht, was ich meinen Kindern heute Abend kochen soll.»

Schwester Ariane: Auf den Gassen im Zürcher Langstrassenquartier sind wir in der niederschwelligen und aufsuchenden Arbeit seit vier Jahren unterwegs. Das heisst, wir gehen die Leute suchen, in den Bordellen, auf den Drogenplätzen, in den dunklen Winkeln der Gassen und bieten ihnen gesamtheitliche Hilfe und Unterstützung an, auch Essen. Seit eineinhalb Jahren allerdings – seit dem ersten Lockdown – verteilen wir täglich zwischen 250 und 400 warme Abendmahlzeiten, frische und haltbare Lebensmittel, Hygieneartikel und vieles mehr. Alles, was die Menschen für das tägliche Leben brauchen. Der Kern unserer Arbeit ist jedoch nach wie vor, die Begegnung mit den Menschen am Rande der Gesellschaft auf Augenhöhe zu suchen, wie es der Name unseres Vereins «incontro» sagt.

Wäre nicht das Sozialamt zuständig, die Grundbedürfnisse bedürftiger Menschen zu decken?

Pfarrer Karl Wolf: Menschen mit einer B- und C-Bewilligung gehen oft nicht zum Sozialamt. Sie haben grosse Angst, ihre Bewilligung zu verlieren, wenn sie Sozialhilfe in Anspruch nehmen. Und Menschen mit F-Bewilligung müssen mit sehr wenig Geld auskommen, und dies nicht selten mit vielen Kindern zu Hause. Die meisten von ihnen finden kaum Arbeit und sehnen sich sehr, einer Beschäftigung nachgehen zu können. Sie bemühen sich und schreiben Bewerbung um Bewerbung. Doch ohne Erfolg. Das ist sehr hart. Dies hat grosse Auswirkungen auf ihre psychische und später auch auf ihre physische Gesundheit. Lange Zeit ohne Arbeit zu sein, das berichten uns die Betroffenen, bringt sie an den Rand, in schwere Depressionen, Ausweglosigkeit und Isolation. Gleichzeitig erleben wir auch viele ältere Menschen, die in Altersarmut leben und sich in sozialer Isolation befinden. Sie sind von Einsamkeit betroffen und gequält. Ausserdem begegnen wir Personen, die zwar Arbeit haben, aber trotzdem gegen Armut kämpfen. In der Fachwelt werden sie «working poor» genannt. Zu denjenigen, die doch Unterstützung beim Sozialamt in Anspruch nehmen, muss festgehalten werden: Ein Leben mit Sozialhilfe bedeutet grundsätzlich ein Leben am absoluten Existenzminimum. Jeder Rappen muss umgedreht und über vieles muss Rechenschaft abgelegt werden.

 Während der Coronakrise nahm die Not also zu. Seit den Lockerungen der Massnahmen ist Entspannung eingetreten. Bei Ihnen auch?

Schwester Ariane: Nein. Nach wie vor kommen sehr viele Leute zu uns und holen Essen ab. Wir stellen auch einen Anstieg fest, wenn es um ärztliche, psychologische oder seelsorgerische Beratung und Begleitung geht. Will heissen: Die Menschen kommen vermehrt in die kostenlose ärztliche Beratung oder in die Schreibstube in unserem Lokal Primero, wo ihnen professionell bei der Stellensuche geholfen wird. Wir bieten zudem Deutschunterricht an, die Nachfrage ist jedoch zurzeit so gross, dass die Interessierten vorerst auf die Warteliste gesetzt werden müssen. Auch bei unseren täglichen Touren durch das Langstrassenquartier stellen wir eine Zunahme von Frauen und Männern fest, die im Milieu arbeiten. Das hängt mit der weltweiten wirtschaftlichen Lage zusammen: Je grösser die existentielle Not auf anderen Kontinenten oder in anderen Regionen der Welt ist, etwa in Südamerika oder in Osteuropa, desto mehr Menschen suchen nach einem neuen Ort, wo sie überleben können. Sie schaffen hier an, um ihre Familien im Heimatland zu unterstützen.

Seit Corona ist die Not in der Gesellschaft viel tiefgreifender und zermürbender geworden. Ebenso viele über 40-Jährige, die durch die Pandemie ihre Arbeit verloren haben, finden nun keine Stelle mehr. Und Menschen mit Migrationshintergrund haben es zurzeit besonders schwer, unter anderem weil sie die deutsche Sprache nicht einwandfrei beherrschen. Dadurch schwinden die Chancen noch mehr, eine Arbeit zu finden und Geld zu verdienen. Sie verlieren zum Teil ihre Wohnungen und Zimmer, wissen nicht, wie sie ihre Kinder durchbringen können. Auch im Milieu werden die Folgen der Pandemie mehr und mehr sichtbar. Die derzeitige Situation zwingt Frauen aus aller Welt in die Prostitution. Das Problem: Im Milieu gibt es momentan sehr viele Frauen, aber seit Corona weniger Kunden. Die Preise sinken, der Druck und die Gewalt wachsen. Wir unterstützen sie, wo wir können. Die Freundschaft, die viele Freiwillige vom Verein «incontro» mit den Menschen am Rande der Gesellschaft tagtäglich leben, gibt den Betroffenen Halt und Hoffnung, um Schritt für Schritt einen Weg aus der misslichen Lage zu finden.

 

Wer «incontro» in irgend einer Form, auch als Freiwilliger oder Freiweillige, unterstützen möchte, findet auf der Homepage mehr Informationen über den Verein und die Kontaktdaten: www.incontro-verein.ch