Der Gärtner von Damaskus – und die Geschichte der grossen Wanderung (Teil 1)

Was in der Zukunft möglich sein wird, übersteigt bei Weitem das Mass dessen, was wir uns aktuell in der Lage sind vorzustellen. Was sein kann, wird nicht eine Folge von Logik und Kausalität sein. Aus der Serie «Nachrichten aus der Welt von morgen» von Andreas Beers. Teil 1 dieser Geschichte.

© Mia Leu

Wir schreiben den 9. Juli 2264. Es ist früh am Morgen, noch streicht eine kühl-würzige Brise durch die schattigen Gassen. Wir stehen vor dem Caféhaus الوطن (Heimat), gegenüber des Šāriʿ Ḥanāniyā Kanals, im östlichen Teil der Altstadt von Damaskus. Unter den ockerfarbenen Arkaden an einem der kleinen blauen Tische sitzt ein alter Gärtner. Aus dem zu seinen Füssen stehenden, wie eine Aktentasche aussehenden Behälter, ragt eine, wie ein Edelstein schimmernde, dunkelblau glänzende Platte und ein Helioxant.

Damaskus zählt heute 30 Millionen Einwohner aus mehr als hundert Nationen. Es ist keine Stadt im alten Sinne mehr, sondern eine Kulturlandsiedlung von ungeheurer Grösse – eine Mischung aus traditioneller und hochmoderner Baukunst, durchmischt mit modernen Manufaktur-, Garten- und Landbaustrukturen – ein moderner fruchtbarer Halbmond.

Ein riesiges mit Baumalleen gesäumtes Wasserstrassen-Netzwerk durchzieht die ganze Stadt – eine Fortbewegungs- und Transport-Infrastruktur für Menschen und Waren. Es werden damit zwei wesentliche Lebensräume miteinander verbunden: Wohnquartiere mit Gemeinschaftsgebäuden für die Energie- sowie Haushaltsversorgung und handwerkliche Manufakturen unterschiedlichster Grösse. In diesen werden die für den Alltag notwendigsten Gebrauchsgüter hergestellt. Durchzogen sind die rund zehntausend Quartiereinheiten mit tausenden von Gärten und Obstanlagen. Wohn-, Lebens- und Arbeitsorte liegen somit so nahe beieinander wie möglich – Automobile gibt es schon lange nicht mehr. Mit diesem genialen Gesamtkonzept hat man vereint, was man zum Leben braucht, und erhält gleichzeitig noch, trotz der hohen Durchschnittstemperaturen, ein angenehmes Mikroklima.

Ein kunterbunter Kulturteppich nach levantinischer Art. Um diesen gigantischen Flickenteppich herum schliessen sich schmale, ringförmig angelegte landwirtschaftliche Nutzflächen an: Reis, Hartweizen, Hülsenfrüchte, blau und weiss blühende Flachsfelder für die Tuchwebereien und noch viele weitere Kulturen sind dort zu sehen. Sie versorgen nahegelegen und effizient die Menschen mit Lebensmitteln und Rohstoffen. Diese weiten Landschaften sind ebenfalls durchzogen mit einem von Alleen gesäumten Netzwerk grosser und kleiner Kanäle. Sie dienen zur Bewässerung und dem Transport der dort produzierten Erzeugnisse. Durch Hebe- und Senkwerke kann die Strömung in den Kanälen verändert werden. So benötigen die leichten Fähren und Transportkähne für die Fahrt keine Antriebsenergie. Grosse Akazien-, Zedern-, Pinien- und Eukalyptuswälder liegen verstreut wie dunkelgrüne Diamanten im Dunst der weiten Fluren. Die Idee für diese Art von Städtebau und Landwirtschaft wurde im Rahmen der Levantinischen Landkultur & Umweltreform im Jahre 2123 entwickelt.

Dunkler Kaffee dampft in dem kleinen bunten Glas, das der alte Gärtner in seiner von Sonne und Erde gegerbten Hand hält. «Liest du die Zukunft in deinem Kaffeesatz?», fragt die jugendlich klingende Stimme des blonden Mannes, der sich in diesem Augenblick zu ihm an den Tisch setzt. Der Alte blickt auf und sagt mit starker, sonorer Stimme: «Man stellt sich zuerst vor, bevor man sich setzt.» Der hastig aufspringende junge Mann erwidert: «Äähh, ja … , natürlich, entschuldige … , Sokratis Giolias ist mein Name, ich bin griechischer Journalist auf Reisen.» «Nun, dann kannst du dich wieder setzten», sagt der Alte mit einem schelmischen Lächeln, das für einen Moment in seinen dunkelgrünen Augen aufblitzt.

«Mein Name, ist Jamal Gregor Löwenstein, Stadtgärtner und Nachkomme derer, die sich auf den Weg machten zur grossen Wanderung,» sagt der Alte und beisst ein Stück seines Pistaziengebäcks ab, mit dem die in der Mitte des Tisches stehende Schale belegt ist.
«Nachkommen derer, die sich auf den Weg zur grossen Wanderung gemacht haben? Was soll das denn bedeuten?», fragt stirnrunzelnd der Journalist.
«Nun Jüngelchen, die Menschen damals hatten es einfach satt, diese Generationen überdauernden elenden Lebensbedingungen …, und die anderen boten sozusagen Hand oder besser gesagt Land.»
Nach einem weiteren Schluck aus seinem Glas fuhr er fort: «Ja, die Menschen beider Seiten hatten dort jegliche Hoffnung auf Heimat aufgegeben.»
«Wer hatte was wo satt und wer bot Hand oder Land?» hakte Sokratis Giolias nach.
«Na, das palästinensische und auch grosse Teile des israelischen Volkes!»

Der alte Gärtner beginnt mit der Geschichte von damals: «Der Einfluss westlicher Nationen in der Levante führte zu einer fast vierhundert Jahre dauernden Konflikt- und Kriegssituation. Die Gründung Israels und die dadurch ausgelöste Konfliktsituation zwischen dem palästinensischen und israelischen Volk verhielt sich wie ein Stachel im Fleisch, den niemand ziehen wollte. Diese Kriege verursachten unermessliche Zerstörung, Leid und Tod. Die Nationen der Welt sprachen damals zwar fortwährend von Frieden, aber zwischen Worten und Taten gab es schon lange keine Übereinstimmung mehr. Im Grunde waren die, die es in der Hand hatten, gar nicht für Frieden, weder in Palästina noch sonst wo auf dem Erdenrund. Ganz im Gegenteil! Kriege gehörten damals zu einem der letzten grossen, vom Aussterben bedrohten Geschäftsmodelle.

«Und die Völker dieser Nationen, gingen die nicht auf die Barrikaden?», fragte Sokratis Giolias. «Moment mal, bin gleich wieder da, muss kurz die Fliessrichtung des Wassers ändern», sagte der alte Gärtner, griff nach dem Helioxant und ging hinüber zum Kanal.

Fortsetzung folgt am 3. Februar …

«Das grösste ökologische Projekt aller Zeiten! – Die Levantinische Landkultur & Umweltreform trägt Früchte – eine grosse Ernte, für Mensch, Natur und Erde» (Schlagzeile aus der syrischen Zeitschrift Zardošt (Zarathustra) vom 12. Juni 2264)

 

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Andreas Beers aus Bern ist Landwirt, Arbeitsagoge und Lehrer. Er kultiviert die Erde, sät und erntet, er denkt, spricht und schreibt über: Mensch, Erde und Himmel, oder was wir zum Leben brauchen.