Der rote Löwe ­– und die Alchemie von Liebe und Macht (Teil 5)

Zwischen Gut und Böse liegt die Erkenntnis der geistigen Welt – der Weg zur Wahrheit. Gut und Böse sind vom Menschen geschaffene, uralte Halbwahrheiten. Bis heute kreiert er mit ihnen endlose Gegensätze und zerreisst damit die Einheit zwischen Menschen, Erde und Kosmos. So entstand der Kreislauf von Irrtümern, von Macht und Ohnmacht, von Unfrieden und Zerstörung. Die Erkenntnis über die Einheit von Materie und Geist führt uns gemeinsam, auf friedvollen Wegen, zur individuellen Freiheit. Aus der Serie «Nachrichten aus der Welt von morgen» von Andreas Beers. Fünfter und letzter Teil dieser Geschichte.

© Fotos und Gestaltung: Mia Leu & Andreas Beers

… «Mária … , du bist es!», erwidert Milòsch. Ihre letzten Worte klingen noch nach: «Nicht die Frage, was ist Gut und was Böse, sondern welches Denken, Fühlen und Handeln ist förderlich oder hemmend für das Leben hier auf Erden … »

Er setzt sich langsam auf, reibt sich das Gesicht und schüttelt seinen Kopf, um die noch immer anhaftenden Traumbilder zu verscheuchen. Sein Mantel rutscht ihm von den Schultern, die Morgenfrische kribbelt sofort auf seiner Haut, und er rutscht näher an die Feuerstelle. «Wie kamst du in meinen Traum? … Und woher wusstest du, dass ich auf dem Weg zu dir bin?»

Mária streift ihre tiefhängende Kapuze zurück, dreht sich zu Milòsch, blickt ihn eindringlich an und sagt mit leiser Stimme: «Endlich … , endlich sehen wir uns wieder …, nach so langer Zeit.» Mit einem Lächeln fährt sie fort: «Und deine Fragen, die sind doch albern, findest du nicht?» Milòsch erhebt sich, geht ein paar Schritte vom Feuer weg, dehnt seine klammen Glieder und blickt auf das breite, graue Wolkenband im Osten, dessen oberer Rand zu glühen scheint. Darüber türmen sich mächtige, wie aufgeblasene, weissrosa Wolkenberge auf.

«Das Wetter ist so unruhig und unberechenbar geworden wie die Menschen», sagt Milòsch. «Und ja, du hast recht, meine Fragen sind albern!» Er dreht sich um und erkennt hinter Márias Antlitz die Gefährtin seiner Seele … , die Gestalt mit dem dunkelgrünen, mit feinen Goldfäden durchwirkten Gewand aus seinem Traum. «Unsere Vergangenheit ist in jedem Moment gegenwärtig. Sie ist die unvergängliche Matrix, in der wir zeitlos leben. Dies zu erkennen, bedeutet, sein Schicksal frei gestalten. Das ist es doch, wonach wir beide gesucht haben, schon seit langer Zeit», beendet Milòsch seinen Satz und setzt sich wieder ans wärmende Feuer.  

Mit ihren kräftigen, knorrigen Ästen zeigt die uralte Eiche auf den glühenden Himmel im Osten. Ein Septembermorgen im Jahre 2197, an einem Waldrand, ein Tagesmarsch westlich der Theiss und wenige Minuten nach dem Milòschs Traumbilder verblassten. Trotz Sonnenaufgang herrscht immer noch ein seltsames Dämmerlicht. Die Blätter der Eiche schimmern dunkelgrün, sie zittern für einen kurzen Moment und erstarren dann augenblicklich … , der Wind hat sich gelegt. Vielleicht ist es die verräterische Stille vor dem grossen Sturm? Dicht nebeneinander, eingehüllt in ihre Umhänge, sitzen Mária und Milòsch unter dem tiefhängenden Geäst der alten Eiche, am wärmenden Feuer. Soeben haben sie ihre Mahlzeit beendet und das Übriggebliebene in ihren Umhängetaschen versorgt.

«Ich wollte dich auf dem Weg zu deinem Zuhause, zu mir, ein Stückweit begleiten, damit du keine Umwege machen musst … » «Dafür sind wir Menschen doch füreinander da», sagt Mária nach längerem Schweigen. «Als ich dich in Budapest aus dem Gewölbe steigen sah, mit diesem Bruchstück in deiner Tasche, wusste ich, dass du wieder etwas auf Abwege geraten bist.» Sie lächelt und stösst Milòsch dabei sanft in die Rippen. «Schmeiss die alten Scherben weg und lass dich nicht immer wieder durch solche Dinge aufhalten!» «Sind schon weg!», erwidert Milòsch, «Hab sie in ein verrostetes Rohr eines alten Panzers gesteckt, das aus einem Berg Schutt hervorschaute, wenige Kilometer nach …

«Und hör endlich damit auf, diese Cyborgianer retten zu wollen, dich mit ihnen zu beschäftigen!», unterbricht Mária seine Rede, «sie haben diesen Weg gewählt schon vor langer Zeit, es ist ihr Schicksal! Das Lügengebäude, in dem sie leben, ist nun mal ihr Weg und ihre Wahrheit.» Mária ist sichtlich erregt, und eine leichte Röte zieht über ihre Wangen. «Geh du deinen Weg und belaste dich nicht mit ihren Problemen, das lenkt nur ab», beendet sie jetzt, energisch klingend, ihren Satz. Milòsch blickt in das kleiner werdende Feuer, legt für einen Moment seine Hand auf Márias Unterarm und nickt unmerklich mit seinem Kopf. Dann wirft er eine Handvoll trockene Eicheln ins Feuer. Es knackt … , Funken sprühen … und die Flammen erheben sich blaurot aus der Glut.

«Seit hunderten von Jahren erkennt man sie an ihren Worten und Taten», fährt Mária mit leiser Stimme fort, als wolle sie diesen Gedanken eigentlich keinen Raum mehr geben … , als wolle sie diese Worte eigentlich gar nicht aussprechen: «Kreuzzüge, Kampf der Kulturen, Kampf gegen den Terrorismus, gegen immer neue Bösewichte, die sie ausfindig machen in dieser Welt. Sogar gegen Vieren, das Klima und Geschlechter kämpfen sie … , immer noch! Worte und Begriffe werden verdreht, dahinter steckt jedoch immer noch die gleiche Gesinnung. Natürlich sind sie überzeugt von ihrer Lügenwelt, die sie mit ihren selbst erzeugten Wahrheiten zementieren. Kämpfst du gegen sie oder mit ihnen, bleibst du ewig Sklave im Kreislauf ihrer dunklen Dramen. Das ist ihre Nahrung! Ohne sie würden sie verhungern, weil ihre Seelen sonst nichts mehr nährt … Da ist nur noch Finsternis in Haupt und Herzen. Und merke dir: Dunkelheit ist nicht der Gegensatz, sondern die Abwesenheit von Licht!», sagt Mária und reibt sich ihre Hände über dem Feuer.

«Bleib auf dem Weg der Wahrheit, auf dem du wandelst. Die Zeit der Kompromisse ist schon lange vorbei, das weisst du doch!», fuhr Mária mit milderer Stimme fort. «Du hast ja recht … », erwidert Milòsch und stochert mit einem Stock in der Glut. Inzwischen hat sich der Himmel weiter verdunkelt und in der Ferne zieht ein gelblich graues Regenband über die Ebene. «Wenn du zu lange unter ihnen bist, steckt dich ihr Denken an wie eine Epidemie, gegen die es keine Impfung gibt.» «Kein Wunder», sagt Mária, «die ist Mittel zum Zweck. Ihren eigenen Verstand haben sie schon vor langer Zeit mit mephistophelischer Schlauheit infiziert. Die führte sie dann unabwendbar in die endlose Glaubensschleife ihrer allmächtigen künstlichen Intelligenz. Mit dieser Gesinnung kannst du keine Kompromisse eingehen, keinen Pakt schliessen! Sonst geht es dir wie dem Doktor Faustus in seinem Studierzimmer», beendet Mária ihre Rede. Dann schweigen die beiden für längere Zeit … Nur das Knacken der Eicheln im Feuer und das Flüstern des Waldes hinter ihnen ist zu hören …

«Lass uns aufbrechen, es ist an der Zeit. Das Wetter können wir ohnehin nicht ändern, es ist wie es ist und hat seine eigenen Gesetze», sagt Mária und blickt den ziehenden Regenschwaden nach. «Du hast recht, bis zur Dunkelheit sollten wir die Anlegestelle am Ende des westlichen Kanals der Theiss erreichen. Vielleicht haben wir Glück und erwischen noch den letzten Fährmann», erwidert Milòsch, steht auf und schiebt mit dem Fuss Erde auf die Glut. «Verbinde dich mit den Menschen deiner Gesinnung … , unserer gemeinsamen Gesinnung … , und finde deinen Frieden. Auf dem Landgut ist auch Platz für dich. Arbeite mit uns an der neuen Erde, die alte wird vergehen, ihre Weisheit ist von Dauer und das ist unsere wahre Heimat.»

Mit diesen Worten erhebt sich Mária, hängt sich ihre Tasche um und gibt Milòsch, der immer noch in die lodernde Glut vor sich hinstarrt, einen leichten Schubs. «Auf, mein Lieber, zaudere nicht, mach dich auf den Weg!»

Mephistopheles zu Doktor Faustus: «So gefällst du mir. Wir werden, hoff’ ich, uns vertragen; Denn dir die Grillen zu verjagen, bin ich als edler Junker hier. In rotem, goldverbrämtem Kleide, das Mäntelchen von starrer Seide, die Hahnenfeder auf dem Hut, mit einem langen, spitzen Degen; Und rate nun dir, kurz und gut, dergleichen gleichfalls anzulegen; Damit du, losgebunden, frei, erfahrest, was das Leben sei.» (Faust I – Studierzimmer, Johann Wolfgang von Goethe, Kapitel 7. Dieses Kapitel trägt auch den Beinamen «Der Teufelspakt».)

-----

Andreas Beers aus Bern ist Landwirt, Arbeitsagoge und Lehrer. Er kultiviert die Erde, sät und erntet, er denkt, spricht und schreibt über: Mensch, Erde und Himmel, oder was wir zum Leben brauchen.