Deutsch ist eine Fremdsprache
Müssen wir deutsch reden, wenn wir mit Deutschen reden? Aus dem Podcast «5 Minuten» von Nicolas Lindt.
Eine deutsche Bekannte von uns, die seit einigen Jahren mit ihrem italienischen Mann im Tessin wohnt, wo sie beide arbeiten, musste in der deutschen Schweiz einen eintägigen Kurs besuchen. Als sie sich anmeldete, versäumte sie es, das Kleingedruckte zu lesen. Da stand nämlich, dass der Kurs auf Schweizerdeutsch durchgeführt würde. Als sie dann ankam und der Kursleiter zu reden begann, wurde ihr sehr schnell klar, dass sie nur die Hälfte verstand. Nachdem sie eine Weile mitgemacht und sich mit unserer Mundart abgequält hatte, getraute sie sich, aufzustrecken und zu gestehen, dass sie fast nichts verstehe.
Darauf entschied der Dozent mit Rücksicht auf die Teilnehmerin aus Deutschland, dass der Kurs für den Rest des Tages auf Deutsch abgehalten werde. Er fasste diesen Beschluss, ohne eine Abstimmung unter den Anwesenden durchzuführen, die ausnahmslos Schweizer waren. Das hätte er vielleicht tun sollen, um den Frieden zu wahren. Er tat es nicht – mit dem Ergebnis, dass die junge Deutsche spürte, wie sich unter den Kursteilnehmern ein Unmut breitmachte, da sie nun plötzlich Hochdeutsch sprechen mussten.
Wir Schweizer glauben ja im ersten Moment immer, dass das Deutsche kein Problem für uns sei. Aber wenn wir es sprechen müssen, vor allem spontan, wird uns klar: Es bleibt eine Fremdsprache. Wir drücken uns nicht so flüssig und so natürlich aus wie in unserer Muttersprache. Manchmal müssen wir nach dem treffenden Wort suchen, das geht sogar mir so, obwohl ich sehr viel mit der deutschen Sprache arbeite.
Auch ich muss im Kopf immer zuerst übersetzen, was ich eigentlich sagen möchte. Das geschieht natürlich innert Sekunden, und doch ist es immer ein Extraschritt, den ich machen muss – es ist Arbeit, die ich da leisten muss. Auch die Kursteilnehmer haben das so empfunden, sie mussten den ganzen Tag wegen des deutschen Gastes Arbeit leisten, um sich genau so äussern zu können, wie sie es wollten.
Die junge Deutsche war natürlich sehr froh darüber, dass sie nun alles verstand, und es war ihr auch voll bewusst, warum die anderen Kursteilnehmer von der Wendung der Dinge nicht angetan waren. Auch ich verstehe den Unmut der Schweizer an diesem Kurstag. Wie sie sich fühlten, kann ich gut nachvollziehen – auch ich hätte nicht das Bedürfnis gehabt, ins Deutsche zu wechseln. Und deshalb würde ich vorschlagen, dass wir das anders lösen. Dass wir so oft wie möglich bei unserer eigenen Sprache bleiben, beim Schweizerdeutschen. Nicht nur im privaten Umgang mit Deutschen, sondern auch öffentlich und sogar in der Schule, im Studium.
Das Zusammensein mit Deutschen darf nicht dazu führen, dass wir ins Hintertreffen geraten. Denn es kommt inzwischen immer häufiger vor, dass in einer Gesprächsrunde auch Deutsche anwesend sind, die in der Schweiz leben. Wenn wir dann Deutsch sprechen müssen oder es tun wollen, um die Deutschen nicht auszuschliessen, dann sind sie halt immer schneller als wir. Das sind sie sowieso, und das ärgert uns. Wenn wir aber Schweizerdeutsch reden, können wir uns genauso klar ausdrücken, wie es die Deutschen tun.
Deshalb denke ich, es wäre am besten, wenn die Deutschen beim Deutschen bleiben, aber uns Schweizer zumindest verstehen würden. Sie müssen nicht selber Schweizerdeutsch sprechen können, das erwarten wir gar nicht, aber sie sollten doch ziemlich bald, nachdem sie in der Schweiz ankommen, die Mundart verstehen lernen. Dann können sie Deutsch sprechen, während wir bei der Mundart bleiben. So geht kein Verlierer vom Platz, und beide Seiten erkennen, dass man sich auch in verschiedenen Sprachen begegnen kann. Man muss es nur wollen.
Dieser Text erschien im Podcast «5 Minuten» von Nicolas Lindt. Täglich von Montag bis Freitag unter dem Namen des Autors auf Facebook, Spotify, iTunes oder direkt unter www.dieluftpost.ch
von:
Über
Nicolas Lindt
Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.
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