Zum Mut machen und Nachmachen: Die Autorin, die selbst ein einfaches Leben in der Ukraine lebt, will inspirieren und zeigen, dass ein Wandel in der Gesellschaft bereits stattfindet. Ein Text für alle, die Lust auf ein Leben außerhalb des Hamsterrades des Neoliberalismus haben.

Wandern und sich weiterbilden – die Wanderuni, ein alternatives Angebot.

Ich schreite durch ein Dorf. Vor einem Zauntor sitzt eine alte Frau, lächelt mich breit an und grüßt mich, während sie mit ihrer Nachbarin Körbe flicht und über ihre (Ur-)Enkel redet. Ihre Nachbarin ist die Heilerin und Hebamme. Die Straße verwandelt sich in eine Staubwolke, als eine mit Heu und Kindern voll beladene Kutsche von den Feldern heimfährt, um das Heu auf dem Heuschober über dem kleinen Stall einzulagern. Der Weg wird von Obst- und Nussbäumen gesäumt, dazwischen bunte Bauerngärten, auf deren Zäunen stolz bunte Gockel thronen.

Hinter den kleinen Holz-, Lehm- oder Steinhäuschen erstrecken sich Gemüsebeete und Felder, bespickt von bunten Farbtupfern, die weidende Kühe und Ziegen erahnen lassen. Aus den umliegenden Wäldern tönt ein Klopfen, Holz für den Winter wird mithilfe von Pferden und einiger Wasserbüffel oder Ochsen eingebracht. Ich erreiche an der Stelle, an der sich alle Wege kreuzen, den kleinen Teich. Gänse und Enten schnabulieren genüsslich und zufrieden schnatternd Teichkresse und dösen im kühlen Schatten der Korbweiden. Daneben spielen Kinder vor der Dorfschule Fangen.

Die Kinder werden altersübergreifend in handwerklichen und künstlerischen Fertigkeiten, körperlicher Gewandtheit, Lesen, Schreiben und Rechnen, Geschichte, dem Dorfrecht, sozialen Kompetenzen und Astrologie erlebnispädagogisch an wechselnden Standorten von verschiedenen Menschen geschult. Auf der Infotafel sind Anschläge angebracht, die Termine der nächsten Treffen oder selbstorganisierten Veranstaltungen, außerdem die Verfassung der Einwohner:

  • Jeder Mensch ist gleich viel wert.
     
  • Jeder hat das Recht auf ein bis zwei Hektar Land zum Leben , sowie auf die Nutzung der Allmendeweiden für die Tiere und versorgt sich und seine Familie mit Lebensmitteln, außer er übernimmt eine große Aufgabe für die Allgemeinheit, dann versorgt die Gemeinschaft ihn.
     
  • Niemand hat das Recht, Land zu besitzen.
     
  • Jeder hat das Recht auf gutes Wasser. Trocknet eine der Quellen aus, teilen die Nachbarn ihr Wasser.
     
  • Jeder darf jährlich das Dorfoberhaupt wählen, welches die Verwaltung und Rechtsprechung übernehmen wird.
     
  • Ist ein Mensch in Not, greifen ihm alle unter die Arme.
     
  • Es dürfen ausschließlich Waren und Dienstleistungen getauscht werden.
     
  • Durchreisende Nomaden dürfen am Waldrand ihr Lager aufschlagen, solange wie ihr Können gebraucht wird oder sie es benötigen.
     

Ich denke, wir alle sind zu solch einem Leben in der Lage. Der heutige Luxus umgibt die Mehrheit unserer Mitmenschen erst seit weniger als einem Jahrhundert, auf Kosten von Menschen an anderen Orten unserer globalisierten Welt, die ärmer leben, als sie in einer gerechten und nachhaltigen Welt leben müssten.

Gemeinschaftlich können wir hohen Belastungen standhalten, und es hat sich mindestens seit zehntausend Jahren eine ortsgebundene Lebensweise im Einklang mit unserer Mitwelt etabliert, die uns und das ökologische Gleichgewicht psychisch und physisch gesund hält und uns glücklich macht.

Dazu gehört das Recht eines jeden Menschen, Land zu nutzen, basisdemokratische Organisationsformen, die Anerkennung des Prinzips des Lebens, dem Zyklus von Geburt und Tod durch die Vereinigung weiblicher und männlicher Kräfte. Diese Rechte müssen wir uns zurückholen – und zwar organisiert und als große Gruppe, gegliedert in überschaubare Einheiten. Denn ein Wandel funktioniert am besten im Zusammenspiel mit möglichst vielen Menschen. Unser Kulturkreis ist geprägt von der sich wiederkehrenden Enteignung der Bauern und der Etablierung von Großgrundbesitzern beziehungsweise Großbauern, welche Sklaven, Leibeigene und heutzutage unter anderem deutsche Saisonarbeiter aus der Unterschicht, Polen und Ukrainer beschäftigen. Das gilt auch für „Bio“- und Demeter-Farmen.

Kleinbauern sind – insgesamt betrachtet – ertragreicher als Großbauern. Auch die Permakultur lebt vor, dass sie auf den gleichen Flächen mehr erwirtschaftet als die konventionelle Landwirtschaft. Weg von großen Maschinen und hin zu einer Renaissance des freien Bauerntums macht also sehr viel Sinn, gerade in Hinblick auf die vielen Menschen, die momentan noch von Tierhaltung und Gärten im kleinen Maßstab träumen, und auch in Anbetracht der zahlreichen Probleme wie der Verdichtung und Versandung der Böden, eines hohen Ressourcenverbrauchs, Pestizide und künstlichem Dünger, Sortenverarmung, Massentierhaltung sowie Überdüngung.

Diese Menschen möchte ich dazu ermutigen, sich aus der Masse heraus zu nehmen, sichtbar zu werden und sich zusammenzuschließen, um dann für ein autarkes und selbstbestimmtes Leben zu kämpfen. Dazu gehört auch die Gründung eines eigenen Bildungs- und Währungssystems.

Auch Sie können Schritt für Schritt aussteigen, wenn Sie Lust auf ein anderes Leben haben. Hier ein Beispiel als Vorbild. Es soll Sie inspirieren und zeigen, dass ein Wandel bereits stattfindet und wie er möglich ist:

 

Wanderuni ─ ein wortwörtlicher Studiengang

Wir sind eine Gruppe von Menschen, die aktiv an der Wanderuni teilnehmen oder teilgenommen haben. Die Wanderuni ist eine Idee. Sie besteht darin, sich selbstorganisiert und mithilfe alter Wanderuni-Hasen als Menschen zusammenzufinden und gemeinsam einen Studiengang zu durchlaufen. „Studiengang“ ist hier wortwörtlich gemeint: Zusammen wird das Sommerhalbjahr gelebt, gelernt, gewandert und gereist.

Die Gruppendynamik entwickelt sich jedes Jahr aufs Neue individuell und bestimmt, auf welche Art und Weise sich mit meist basisdemokratisch nach dem Konsensprinzip gewählten Themen beschäftigt wird. Dabei nimmt auch das soziale Lernen großen Raum ein und die Beschäftigung mit sich selbst, unterstützt und angestoßen durch den Spiegel der Gruppe.

So haben bisher alle Gruppen verschiedene Gemeinschaften, Lehrer und Veranstaltungen in Deutschland besucht, Zeiten in der Natur verbracht und sich den Herausforderungen des sich täglich wandelnden Lebens gestellt. Seit zwei Jahren gibt es auch ein Winterquartier für die Wanderuni. Da können Menschen „studiengangübergreifend“ ihr eigens gestaltetes Studium fortsetzen.

Die Wanderuni ist aus dem „Funkenflug“ hervorgegangen, einer Jugendbewegung aus dem Jahre 2012, die sich für eine bessere Bildung einsetzte. Den ersten Studiengang gab es im Sommer 2015. Da sich über die Wanderuni kaum allgemeingültige Aussagen treffen lassen, kann ich Genaueres nur von meinem Studiengang 2018 erzählen.

Entscheidungen haben wir getroffen, in dem wir im Kreis beisammensaßen, jede Stimme angehört haben und versucht haben, einen Entschluss zu fassen, der sich für jede einzelne Person gut anfühlt. Das konnte ganz schön lange dauern, war uns aber sehr wichtig. Denn wir wollten neue Wege des sozialen Miteinanders beschreiten, auf denen sich alle gesehen und wertgeschätzt fühlen und durch die Menschen Freude dabeihaben, miteinander in Kontakt zu gehen und sozial unterwegs zu sein.

Wir hatten eine Gemeinschaftskasse, in die jeder einen für ihn möglichen Betrag eingezahlt hat, solange, bis dies wieder notwendig war. Keiner von uns hatte wirklich viel Geld und wir haben nur sehr wenig gebraucht. Jeder von uns war so ausgerüstet, dass wir jederzeit unter freiem Himmel nächtigen konnten, und wir haben immer wieder für Kost und Logis gearbeitet. Wir sind komplett unabhängig von einer Organisation und dem staatlichen Bildungssystem. Dadurch haben wir auch keinen offiziell anerkannten Abschluss und bekommen keine staatliche Unterstützung. Daher arbeiten wir daran, ein eigenes Zertifikat zu entwickeln und Strukturen aufzusuchen und zu gründen, bei denen auch im weiteren Leben der selbstbestimmte Weg weiter beschritten werden kann.

Dies bedarf viel Mut und Kraft und die Ernte ist groß. Bei der Wanderuni darf jeder mitmachen. Allerdings ist es gut, von Anfang an bei den Gruppenfindungsprozessen und Planungstreffen im Winter teilzunehmen. Unsere Erfahrung ist, dass es sich lohnt, aus dem, was alle für normal und notwendig halten, auszusteigen. Sobald ich die Entscheidung getroffen hatte, mein Psychologiestudium abzubrechen, haben sich mehr alternative und einzigartige Perspektiven und Möglichkeiten aufgetan, als ich es jemals für möglich gehalten hätte.

Letztendlich habe ich mich in den ukrainischen Waldkarpaten wiedergefunden und bin nun selbst ausgestiegen. Und so ist wahr geworden, was ich mir schon als Kind erträumt habe: einen kleinen Selbstversorgerhof zu betreiben. Nur früher und einfacher als gedacht.