Die Wurzeln unserer Naturwissenschaft – Aristoteles und die Feldzüge Alexanders des Grossen

In der Nacht von Alexanders Geburt ging der Tempel der Artemis zu Ephesos in Flammen auf. Viele gaben dem Ereignis damals die Deutung, dass ein grosses Unglück über Asien kommen werde. Welchen Impuls trug Alexander der Grosse in seinen Feldzügen von West nach Ost in die Welt? Aus der Serie: «Kulturgeschichtliche Impulse im Weltgeschehen» von Andreas Beers. Teil 3.

© Alexander der Grosse / Goldmedaillon aus dem Fund von Abukir

«Wie ein Mensch zum Heros, so kann ein Heros zum Gott aufsteigen. Hätte die Gottheit die Alexanders Seele auf die Erde gesandt hatte, ihn nicht allzu früh zurück in den Himmel geholt, dann wäre die Vereinigung aller Menschen unter einem einzigen Gesetz der Gerechtigkeit wie unter einem grossen Licht gelungen.» So der griechische Philosoph Plutarch (46-125 n. Chr.) in seiner Alexanderbiografie. Diese Worte sind ein Zeugnis dafür, welche Hoffnungen der Makedone Alexander der Grosse zu wecken verstand. Seine Offenheit und Toleranz gegenüber anderen Völkern hat dazu beigetragen, dass sogar seine ehemaligen Gegner ihn später verherrlichten.

Alexander der Grosse wird im Alten Testament zweimal erwähnt: Einmal verschlüsselt im Buch Daniels, in der Vision der Weltreiche, und einmal im ersten Buch der Makkabäer. Die Sagen über ihn waren im Orient so verbreitet, dass sie auch dem Propheten Mohammed zu Ohren kamen. In der 18. Sure des Korans wird er nach dem «Zweigehörnten» gefragt. Dieser Beiname Alexanders erklärt sich aus dem makedonischen Helm mit den zwei Widderhörnern des Gottes Ammon, die er auf seinen Goldmünzen am Kopf trägt. Der Alexander-Roman von Iulius Valerius Polemius, der zu Beginn des 4. Jahrhunderts aus dem Altgriechischen ins Lateinische übersetzt wurde, war das nach der Bibel am weitesten verbreitete Buch des Mittelalters. In siebzig Sprachen übersetzt wurde es vom nördlichen Island bis ins chinesische Turfan gelesen. Doch wer war Alexander der Grosse, und was war sein Impuls?

Weltfriede und Völkerverschmelzung: Alexander fühlte sich als Ordner der Menschheit, von Gott gesandt, um alle Menschen zu einem einzigen Körper zusammenzufügen und die Völker in einem riesigen Mischkrug der Freundschaft zu vermengen. Dies war ein Vorgriff auf die Metapher für die Gesellschaft der Vereinigten Staaten, «melting pot». Alexander erklärte: «Man darf Griechen und Fremde nicht nach ihrem Gewande, ihren Waffen und ihrem Glaube unterscheiden, sondern Grieche ist, wer gerecht und tüchtig ist, und wer nichts taugt, der ist ein Barbar, gleich welcher Herkunft.»

Glaube, Tüchtigkeit und Erkenntnis – das waren die Stärken Alexanders des Grossen. Seine Mutter Olympia, Prinzessin aus Epirus, war Priesterin und in die alten Mysterien von Samothrake eingeweiht. Sein Vater, Philipp II, König von Makedonien und Hegemon des Korinthischen Bundes, war Feldherr, Herrscher und Staatsmann. Sein grosser Lehrer war Aristoteles von Chalkis. Er gehört zu den bedeutendsten Philosophen und Universalgelehrten der Geschichte bis in unsere heutige Zeit. Seine Naturphilosophie, Logik, Biologie, Physik, Ethik und Staatstheorie, auch als Aristotelismus bezeichnet, bildet die Grundlage unserer gesamten modernen Wissenschaftstheorien. Mit dieser «Dreiheit» hatte sich die Seele Alexanders den fruchtbarsten Nährboden ausgewählt für den Impuls, den er in die Welt zu tragen hatte.

Die ihm zur Verfügung stehende Zeit war kurz, seine Taten gewaltig. Geboren wurde Alexander am 20. Juli 356 v. Chr. in Pella, gestorben ist er mit 33 Jahren am 10. Juni 323 v. Chr. in Babylon. Nach dem Tod seines Vaters wurde er im Alter von zwanzig Jahren König von Makedonien. Er begründet das grosse Zeitalter des Hellenismus. Alexander dehnte die Grenzen seines Reiches durch den sogenannten Alexanderzug und die Eroberung des persischen Grossreiches bis an den indischen Subkontinent aus. Das Perserreich war zu Alexanders Zeit die grösste Territorialmacht der Erde.

Was Alexander der Grosse an Kulturimpulsen nach Asien trug, waren die Lehren des Aristoteles. Diese waren geprägt durch den Geist der chthonischen Mysterien – einer Naturwissenschaft, die die Gesetzmässigkeiten des Kosmos umfassten, um das Irdische zu erklären. Für diese Wissenschaft war in Griechenland die Zeit vorbei. Was noch «gerettet» werden konnte, trug Alexander in den Orient. So gingen ihre Reste in die Lehren der jüdischen und arabischen Schulen ein. Wie in einem Pendelschlag nahmen sie mit der Ausbreitung des Islams ihren Weg zurück nach Westen über Afrika nach Spanien. Dort bereiteten sie den Boden für unsere heutigen naturwissenschaftlichen Anschauungen.

Im Geiste sind wir eine Menschheitsfamilie. Was wir auf physischem Felde austragen, ist nur die eine Seite einer gemeinsamen Geschichte, auf ihrer «Rückseite» finden wir die Impulse der Welt.

In dieser Serie bereits erschienen:
Teil 1: Die Schiffchen und Kettfäden auf dem Webstuhl der Welt

Teil 2: Die Durchlichtung der Welt

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Andreas Beers aus Bern ist Landwirt, Arbeitsagoge und Lehrer. Er kultiviert die Erde, sät und erntet, er denkt, spricht und schreibt über: Mensch, Erde und Himmel, oder was wir zum Leben brauchen.

«Das edelste Vorrecht der menschlichen Natur ist, sich selbst zu bestimmen» (Friedrich Schiller, 1759-1805, deutscher Arzt, Dichter, Philosoph und Historiker)