Diskutieren war einmal etwas Gutes. Eine anerkannte Form des Gesprächs. Aber das ist vorbei. Aus dem Podcast «Fünf Minuten» von Nicolas Lindt.

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Irgendwann vor drei Jahren hat es begonnen. Plötzlich hatte ich keine Lust mehr. Keine Lust mehr, zu diskutieren. Über das eine Thema. Ein Gespräch mit einem Verwandten, den ich eigentlich schätze, eskalierte zu einem Streit. Ich brachte weitere Argumente, von denen ich glaubte, dass sie stark und stichhaltig waren – doch auf einmal wurde mir klar: Ich kann sagen, was ich will. Es hat keinen Sinn. Mein geschätzter Verwandter will das Offensichtliche einfach nicht sehen. Oder er sieht es tatsächlich nicht. Und ihm ging es genauso mit mir.

Dasselbe erlebte ich immer wieder. Im direkten Gespräch, im Austausch von E-Mails, am Telefon: Das gegenseitige Unverständnis über das eine Thema war so total, dass der bittere Nachgeschmack der Sinnlosigkeit immer unerträglicher wurde.

Auch in früheren Jahren war ich manchmal zum Schluss gekommen, dass jede weitere Diskussion vergeudete Zeit war. Doch immerhin respektierte man die andere Meinung. Man versuchte sie sogar zu verstehen. So habe ich es jedenfalls in Erinnerung.

Nun aber stellte ich mit Erschrecken fest, dass dieser Respekt plötzlich weg war. Beide Seiten schüttelten nur noch den Kopf über das, was man sagte. Beide Seiten lachten bloss noch verächtlich. Oder schauten sich bloss noch entgeistert an. Und konnten es schlicht nicht fassen, wie man so etwas auch nur denken konnte. Wir alle erlebten den Graben, der sich zwischen uns auftat. Und Schuld daran, so kam es uns vor, war das eine Thema. Dieses verdammte Thema. Noch war uns nicht bewusst, dass der Graben schon vorher bestanden hatte. Corona hatte ihn bloss zum Vorschein gebracht.

Eine neue Gesprächskultur entwickelte sich, die mit Kultur freilich wenig zu tun hatte. Wir wichen dem Thema aus. Wir redeten nicht mehr davon. Wir vermieden jeden Stolperstein, jede unvorsichtige Äusserung, die zu einer erneuten Eskalation geführt hätte. Und wenn es an der Familienfeier doch zu einer Kollision kam, winkten wir ab und sagten ein weiteres Mal: Es hat keinen Sinn. Oder wir begannen uns zu verabschieden. Wenn es überhaupt eine Feier gab. Dasselbe im Lehrerzimmer, im Fussballclub, in der Kirchgemeinde: Diskutieren – lieber nicht.

Offen geredet wurde nur in der eigenen Blase. In der Blase erholten wir uns. Dort fanden wir Sinn, dort schöpften wir Kraft für die Konfrontation mit der anderen Seite, die überall dort, wo Menschen zusammentreffen, nicht zu vermeiden ist. Nur unter Gleichdenkenden fühlten wir uns noch wohl. Um jeden zweiten Mitmenschen machten wir einen Bogen. Das hatte es vorher noch nie gegeben.

Als der Albtraum der verordneten Pandemie sich zu lichten begann, kam die zaghafte Hoffnung auf, der Abgrund im Land könnte sich wieder schliessen und es wäre doch wieder möglich, miteinander zu sprechen. Doch die Illusion währte nicht lange. Im Osten eskalierte der Krieg, und wenn die Rede auf Putin kam, war das Erschrecken sofort wieder da: Es hat keinen Sinn. Argumentieren bringt nichts. Wieder standen sich zwei Lager verständnislos und entsetzt gegenüber, und das Entsetzen wurde noch grösser, als wir erkannten, dass es dieselben zwei Lager waren wie bei Corona.

Seither taumeln wir von Ernüchterung zu Ernüchterung. Bei jedem Thema, das die Welt und uns alle bewegt, jedes Mal wieder diese Erkenntnis: Die beiden Lager sind immer dieselben. Natürlich lässt sich nicht jeder Mensch der einen oder anderen Seite zuordnen. Aber im Wesentlichen erleben wir täglich: Die beiden Lager unterscheiden sich durch das Denken. Wir denken nicht gleich. Wir gehen anders mit Informationen um. Die einen betrachten die Welt durch den Kopf, die anderen auch mit dem Herzen. Wie schon der Kleine Prinz sagte: «Man sieht nur mit dem Herzen gut.» Was das heisst, verstehen die einen  schon gar nicht. Die anderen wissen sofort, was gemeint ist.

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Immer zu schweigen, wenn die andere Seite anwesend ist, immer das Thema zu wechseln, fällt uns allerdings schwer. Manchmal drängt es uns, etwas zu sagen. Aber dann überlegen wir: Wenn ich so argumentiere, argumentiert der andere so. Und schon ist der Graben zwischen uns wieder offen. Darüber führt keine Brücke. Es hat keinen Sinn, denken wir dann, und weichen aufs Wetter aus.

Meine Unlust auf Diskussionen hat jedoch einen tieferen Grund. Ich spüre dieses Unbehagen schon lange, und seit Corona ist mir so richtig klar geworden, warum ich nicht gern diskutiere. Weil Diskussionen keine Gespräche sind. Bei Diskussionen geht es nicht um Gedanken, nicht um Empfindungen, sondern um Argumente. Um Facts. Um nackte Zahlen sogar. Diskussionen sind die Sprache des Kopfes. Und sie sind im Grunde wie Kriege, auch wenn sie friedlich gemeint sind. Man greift an. Schlägt zurück. Kontert mit all den Informationen, die man im eigenen Waffenarsenal findet. Und weil es ein Schlagabtausch ist, hört man einander nicht zu. Nicht wirklich. Man sucht nicht die Wahrheit, sondern den Sieg.

Vielleicht ist der gewachsene Widerwille gegen das Diskutieren gar nicht so schlecht. Denn Streitgespräche, wie wir sie heute führen, sind Energien, die trennen. Blockieren. Verletzen. Kriege, auch wenn es nur Wortkriege sind, können zerstören. Das erfahren wir seit drei Jahren. Freundschaften gingen kaputt, Beziehungen brachen entzwei, Familien verstummten. Nicht Gespräche sind schuld daran, sondern Wortgefechte. Gehässige Diskussionen, die nichts gebracht haben ausser Verwundungen und Vergiftungen und einer immer tieferen Spaltung. Wenn etwas sinnlos ist, dann ist es ohne Sinn. Ohne Kraft. Ohne inneren Reichtum. Ohne Berechtigung.

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Der Graben zwischen uns ist eine neue Realität, mit der wir offenbar leben müssen. Wir können ihn nicht wegdiskutieren. Wir müssen akzeptieren, dass es diese zwei Lager gibt, die sich absolut nicht verstehen. Die sich nicht verstehen wollen, doch es vor allem nicht können. Und im Interesse unseres eigenen Seelenheils empfiehlt es sich, das Diskutieren im Zweifelsfall bleibenzulassen. Diskutieren zementiert nur die Spaltung. Und es verhindert, dass wir uns als Menschen begegnen können. Denn das ist unsere einzige Chance. Die Köpfe können sich nicht begegnen. Aber die Herzen.

Als Menschen können wir offen bleiben. Füreinander. Weil wir das Menschsein gemeinsam haben. Richten wir keine Mauern auf. Legen wir keinen Stacheldraht. Beschimpfen wir nicht. Spotten wir nicht. Richten wir nicht. Aber sprechen wir aus, was wir denken. Öffentlich. Verbreiten wir unsere Sicht der Welt! Wer uns zuhören will, soll uns zuhören können. Wer sich uns anschliessen will, soll sich uns anschliessen können.

Über

Nicolas Lindt

Submitted by admin on Di, 11/17/2020 - 00:36

 

Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.

Soeben erschienen: «Heiraten im Namen der Liebe» - Hochzeit, freie Trauung und Taufe: 121 Fragen und Antworten - Ein Ratgeber und ein Buch über die Liebe - 412 Seiten, gebunden - Erhältlich in jeder Buchhandlung auf Bestellung oder online bei Ex LibrisOrell Füssli oder auch Amazon - Informationen zum Buch

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