Gibt es ein gutes Volk?
Nie zuvor haben so viele Menschen auf der Welt «Free Gaza» gerufen. Das Mitgefühl für die Palästinenser ist grösser denn je. Denn sie haben den Bonus der Unschuld. Aus dem Podcast «Fünf Minuten» von Nicolas Lindt.
Mit dem Palästinensertuch, so könnte man sagen, hat alles angefangen. Schon vor Jahrzehnten. Auf einmal trugen alle gesellschaftskritischen jungen Menschen das schwarz-weisse Halstuch. Und «gesellschaftskritisch» bedeutete damals noch links. Die gesamte westliche Linke solidarisierte sich auf diese Weise mit dem palästinensischen Volk, das nach der Gründung des Staates Israel von seiner heimatlichen Erde vertrieben wurde und in Flüchtlingslagern vergeblich auf eine Rückkehr hoffte.
Das Tuch vermittelte gute Gefühle, weil es wärmte und weil es Mitgefühl weckte. Mitgefühl für ein Volk ohne Hoffnung. Von Israel diskriminiert, von den arabischen Staaten im Stich gelassen, vergessen von aller Welt, kämpften die Palästinenser einen verzweifelten Kampf um ihr Existenzrecht. Das trug ihnen viel Bewunderung ein. Sie waren ein wahrhaft heroisches Volk. Und vor allem waren sie unschuldig. Sie trugen keine Mitschuld an dem, was Israel ihnen antat. Sie waren Opfer.
Wer aber arm und unschuldig ist, ist gut. Die Palästinenser waren ein gutes Volk. Man dachte nur gut von ihnen.
Natürlich waren sie nicht das einzige bemitleidenswerte, gute Volk. Die Schwarzen in Südafrika litten unter dem weissen Apartheidregime. Die Tibeter litten unter dem kommunistischen China. Die Kurden litten unter dem türkischen Staat. Die Nicaraguaner litten unter dem Diktator Somoza. Die Basken litten unter dem spanischen Staat. Und die katholischen Iren in Nordirland litten unter der britischen Herrschaft. Sie alle waren so unschuldig und so ohnmächtig wie die Palästinenser, und sie alle kämpften gegen das Unrecht, das ihnen angetan wurde. Die einen gewaltfrei, die anderen mit Gewehren und Bomben.
Zu all diesen Völkern und Minderheiten hatten wir gute Gefühle. Und ich sage «wir», weil auch ich diese Gefühle hatte. Wir litten mit ihnen. Und wir zeigten uns solidarisch mit ihrem Widerstand, ihrem Befreiungskampf, selbst wenn er gewalttätig war. Weil wir – bei aller Ablehnung von Gewalt – erkannten, dass ein Volk, dessen Verzweiflungsschrei nicht gehört wird, irgendwann zu den Waffen greift. Greifen muss. Zum Guerillakrieg. Zum Terror sogar. Wenn es sich nicht, wie die Tibeter es taten, selber verbrennt. Was die Ohnmacht nur noch vergrössert.
Natürlich glorifizierten wir diese Völker. Wir berauschten uns an der Romantik der Revolution. Wir schmückten uns mit den Palästinensertüchern. Wir schwenkten die Fahnen. Wir schwenkten sie sogar dann, wenn ein Gewehr auf ihnen aufgedruckt war. Hasta la victoria siempre! Auf den ewigen Sieg!
Es gehört zu den Vorrechten der Jugend, die Dinge zu idealisieren, einen Befreiungskampf nicht nur richtig und notwendig zu finden, sondern dafür zu schwärmen. Daran zu glauben. Den Emotionen das Herz zu öffnen. So ist es auch heute wieder. Nie zuvor haben so viele Menschen überall auf der Welt voller Empörung und Leidenschaft «Free Gaza» gerufen: Ältere, die schon seinerzeit auf die Strasse gingen, doch ebenso viele Junge und Jüngere. Allein in London am letzten Wochenende waren es mehrere Hunderttausend. Ein Meer von schwarz, grün, weiss und rot bewegte sich durch die City von London und durch viele andere Städte – die Farben von Palästina.
Transparente, die an die Opfer der Hamas-Attacke erinnerten, waren kaum zu sehen. Warum nicht? Weil die Palästinenser in den Augen all dieser Menschen das unterdrückte Volk sind, während die Israeli die Unterdrücker sind. Das unterdrückte Volk ist das «gute» Volk, das unterdrückende ist das «böse» Volk. Dem unterdrückten Volk wird die Gewaltanwendung verziehen, dem Unterdrücker niemals. Denn die Moral ist auf der Seite der Opfer. Die Gewalt der unterdrückenden Staatsmacht dagegen ist moralisch verwerflich.
Jede Befreiungsbewegung, jedes geknechtete Volk kann den Bonus der Unschuld für sich reklamieren. Doch was geschieht, wenn der Befreiungskampf siegreich ist? Wenn das Volk seine Freiheit erlangt? Dann verliert es seinen moralischen Vorschuss. Dann wird aus dem guten Volk ein Volk wie jedes andere auch. Eines mit «guten», doch womöglich auch «schlechten» Seiten. Immer wieder haben Völker, kaum befreit von Besatzungsmacht oder Diktatur, Präsidenten an ihre Spitze gewählt, die das Land in eine neue Diktatur zwangen und gegen Nachbarvölker vielleicht selber aggressive Tendenzen entwickelten.
Auch das jüdische Volk war ein leidgeprüftes und «gutes» Volk, als es seinen eigenen Staat in Palästina erhielt. Doch kaum waren die Eingewanderten da, starben die ersten Palästinenser durch israelische Hand. Schon wenige Jahre später hatten die Israeli ihren Bonus in der Region verspielt.
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Ein Ende des Tötens und eine politische Lösung scheint in unerreichbare Ferne gerückt. Doch die Welt wird nicht nur von uns Menschen regiert. Vielleicht senden die guten Götter irgendwann einen Friedensimpuls auf die Erde, der ein freies Palästina Wirklichkeit werden lässt. Dann aber werden auch die Palästinenser ihren Opferstatus zurückgeben müssen, dann werden auch sie ein Volk wie jedes andere sein. Dann wird man zum Beispiel auch sie danach fragen, wie sie es mit der Benachteiligung der Frauen im Islam halten werden. Man wird sie fragen, ob die Islamisten ihre Anführer bleiben werden. Und fragen wird man sie nicht zuletzt, ob es ihnen leidtut, dass ihr Freiheitskampf auch in Israel viele Opfer gefordert hat. Unschuldige, so wie sie.
Kein Volk ist auserwählt. Auch das palästinensische nicht. Diese Fragen sind deshalb wichtig. Aber nicht jetzt. Jetzt müssen sie warten. Denn vorderhand zählt nur eins: «Free Gaza» und «Free Palestine». Seit 70 Jahren derselbe Traum: Freiheit. Ihrem Ziel bleibt alles andere untergeordnet, bis sie verwirklicht ist. Bis die Nation Palästina eine Nation wie alle anderen werden darf. Bis auch das Palästinensertuch kein besonderes Halstuch mehr ist, sondern eines wie andere auch. Ein Halstuch aus dem Orient.
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von:
Über
Nicolas Lindt
Nicolas Lindt (*1954) war Musikjournalist, Tagesschau-Reporter und Gerichtskolumnist, bevor er in seinen Büchern wahre Geschichten zu erzählen begann. In seinem zweiten Beruf gestaltet er freie Trauungen, Taufen und Abdankungen. Der Autor lebt mit seiner Familie in Wald und in Segnas.
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