Es braucht den Pflichtdienst für alle Schweizer und Schweizerinnen, davon ist der Verein Service Citoyen überzeugt. Die Journalistin und Ökonomin Noémie Roten ist Co-Präsidentin des Vereins. Für sie ist klar: Die Wehrpflicht, so wie sie nach wie vor besteht, ist veraltet. Männer und Frauen sollen beide einen Dienst für die Gesellschaft leisten, sei es im Zivildienst, Zivilschutz oder in der Armee. Der Verein hat diesen August den Auftakt zur Volksinitiative «für einen Service Citoyen» lanciert. Damit Gleichberechtigung, sozialer Zusammenhalt und Solidarität in der Schweiz selbstverständlich werden, sagt die 32-jährige, die als Lastwagenfahrerin das Militär absolvierte.

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Zeitpunkt: Was genau soll ein Dienst für alle – ein Service Citoyen – bringen?

Noémie Roten: Wir haben die Vision von einer aktiven Schweiz, in der Gleichberechtigung, sozialer Zusammenhalt und Solidarität selbstverständlich werden. Eine Schweiz, die handelt, sich engagiert und in der wir gemeinsam die Herausforderungen von morgen, aber auch von heute anpacken. Etwa ökologische Krisen, den Klimawandel, sanitäre Krisen, demografische Herausforderungen oder Alterseinsamkeit. Jede und jeder soll seine Verantwortung gegenüber der Gesellschaft übernehmen können. Deswegen lancieren wir eine Volksinitiative für einen Service Citoyen. Sie fordert, dass jede und jeder einmal in seinem Leben einen Einsatz für die Gesellschaft und Umwelt leistet. Sei es im Zivildienst, Zivilschutz, Militärdienst oder in einem anderen Milizengagement.

Wird der Service Citoyen eingeführt, verdoppelt sich der Rekrutierungspool für Armee, Zivilschutz und Zivildienst. Wenn ich beispielsweise den jetzigen Sommer anschaue, die Feuer in Sizilien und Griechenland, das Hochwasser in der Schweiz und Deutschland, aber auch die Coronakrise – das zeigt, dass wir die Definition von Verteidigung ohnehin neu definieren müssen. Auf diese und künftige Bedrohungen und Krisen brauchen wir eine zivilgesellschaftliche Antwort. Die Einführung des Service Citoyen ist aber nicht nur ein quantitativer, sondern auch ein qualitativer Mehrwert. Wer sich zum Beispiel bewusst für den Armeedienst entscheidet, ist motivierter, als diejenigen, die heute einfach dazu gezwungen werden. Die Armee verzichtet zurzeit fast ganz auf Frauen, lediglich 0,9 Prozent der Armeebestände sind weiblich.

Ich möchte den Fokus auf die Frauen legen: Wir sind im 21. Jahrhundert, und immer noch haben nur die Männer Dienstpflicht. Ist das nicht unglaublich?

Doch. Wir haben im Jahr 2021 in der Schweiz immer noch ein System, das sexistisch ist und systematisch einen Grossteil der Bevölkerung sprich Frauen, aber auch Untaugliche ausschliesst. Es ist eine verfassungsrechtliche Anomalie. Das heutige System ist diskriminierend. Denn die Botschaft, die es ja aussendet, ist: dass nicht jede und jeder fähig ist, öffentliche Aufgaben oder Verantwortungen zu übernehmen. Das aktuelle Modell, das strikt militärisch und männlich orientiert ist, fördert eine Kultur, die ganz klar die Chancengleichheit zwischen Männern und Frauen schädigt, auch auf politischer Ebene. Es zementiert nämlich gewisse Stereotypen und beeinträchtigt direkt den Gleichstellungsprozess. Wer sagt denn, dass eine Frau nicht Militärdienst leisten kann und ein Mann keinen Zivildienst als Pfleger? Wieso sollten diese beiden Sachen nicht gleichwertig sein? Der Service Citoyen will also diese Stereotypen brechen.

Ausserdem darf man nicht vergessen, dass die heutige Dienstpflicht Männern einen Mehrwert bietet, wovon Frauen und Untaugliche ausgeschlossen sind. Die Dienstpflichtigen haben die Möglichkeit im jungen Alter Führungserfahrung zu sammeln, mit Menschen aus unterschiedlichen Regionen und Sozialschichten in Kontakt zu kommen, Katastrophenhilfe zu leisten. Kurzum: Sie machen wertvolle Erfahrungen. Heute ist der Zugang zu diesen Ausbildungswegen und Erfahrungen bestimmt vom Geschlecht und der körperlichen Fähigkeit, will heissen: Man muss Mann und tauglich sein. Das finde ich ziemlich unfair.

Sie haben die Initiative vor rund zwei Wochen lanciert, wie läuft es bislang? Ist die Schweiz reif für ihre Annahme, kurzum für ein Umdenken?

Den Verein Service Citoyen haben wir ja bereits 2013 gegründet. Wir setzten unsere Hoffnungen zuerst aufs Parlament, das hat aber nicht geklappt. Die einzige reale Möglichkeit, dass der Service Citoyen politisch aufgegriffen wird, ist über eine Volksinitiative. Denn das Volk ist progressiver als das Parlament. Den Entschluss die Initiative zu lancieren fassten wir Ende 2018. Seither hat sich ein parteiübergreifendes Komitee gebildet.

Was wir jetzt am 1. August lanciert haben, ist eine Vor-Kampagne, in der wir online Unterschriftsversprechen sammeln und ein Crowdfunding machen. Wenn wir innerhalb der nächsten zehn Wochen 40´000 Unterschriftsversprechen und 60´000 Franken Startkapital für die Umsetzung der Volksinitiative haben, dann gehen wir auf die Strasse und beginnen Unterschriften zu sammeln. Erste Bilanz: Nach zwei Wochen haben wir bereits 22 Prozent, sprich 8728 Unterschriftsversprechen erhalten, und 22 Prozent, sprich 13’137 Franken unseres Geldzieles erreicht.

Ja, wir sind überzeugt davon, dass die Zeit für diese Idee reif ist, und mehrheitsfähig. Erst eben, vor zwei Monaten, ist die grösste Meinungsumfrage zum Thema Sicherheit in der Schweiz herausgegeben worden, durchgeführt von der Militärakademie (MILAK) und dem Center for Security Studies der ETH Zürich. In dieser Umfrage wurde auch das Thema Service Citoyen aufgenommen. Das Resultat: Die grosse Mehrheit der Schweizer Bevölkerung ist dafür, respektive 63 Prozent der Befragten.

Mehr Infos oder/und zum Unterstützen: www.servicecitoyen.ch

Kommentare

Ergänzung

von MS
Schön tut sich da etwas. Ähnliche Ideen wurden vermutlich schon oft diskutiert, in meinem Umfeld bestimmt. Weil es mich wundergenommen hat, was Civiva (Zivildienstorganisation) dazu meint, habe ich kurz recherchiert und eine Stellungnahme sowie ein Interview zum Service Citoyen gefunden : https://www.zivildienst.ch/le-monde-civil-rubriken/civiva-zum-service-citoyen https://www.zivildienst.ch/le-monde-civil-rubriken/weg-von-dieser-leerlauf-debatte   Wieso nicht ausprobieren und wenn wir dann immer friedlicher werden, weil wir immer besser Aufeinander sowie auf unsere Mitwelt achten, erübrigt sich dann das Militär hoffentlich bald von alleine.