Chapeau! – für Marthe Gosteli
Zum diesjährigen Jubiläum des Frauenstimmrechts darf eine Hommage nicht fehlen: Wir ziehen posthum den Hut vor Marthe Gosteli, die zeitlebens für die Gleichstellung der Frauen in der Schweiz einsetzte. Das von ihr gegründete «Archiv zur Geschichte der schweizerischen Frauenbewegung» veränderte die Geschichtsschreibung.
2013 hatte ich das Glück, Marthe Gosteli persönlich kennenzulernen. Als ich sie in ihrem Archiv in Worblaufen interviewte, sprühte die damals 96-Jährige nur so vor Enthusiasmus, Entschlossenheit und Empörung. Immer wieder stand sie auf, um ein Buch aus einem der hohen Regale zu holen. Zum Beispiel den 1990 erschienenen Titel «Grosse Schweizer und Schweizerinnen» – eins der vielen Bücher, die ihr grausam gegen den Strich gingen. Denn von den 100 porträtierten Personen waren 94 Männer und nur 6 Frauen. «Es herrscht ein Bildungsnotstand», kommentierte Gosteli. «Im Geschichtsunterricht kann bis heute keine Rede von Gleichberechtigung sein. Die Helden sind allesamt Männer, doch dies wirft ein falsches Bild auf die Vergangenheit. Die Frauen haben in den letzten hundert Jahren Grosses und Einmaliges geleistet, doch die Geschichtsschreibung lässt diese Verdienste einfach links liegen.»
Um dies zu ändern, hat Marthe Gosteli in dem von ihr gegründeten «Archiv zur Geschichte der schweizerischen Frauenbewegung» Jahrzehnte lang Bücher, Hefte und anderes Archivmaterial gesammelt, um die Geschichte der Frauenarbeit in der Schweiz zu dokumentieren. In Zusammenarbeit mit Frauenorganisationen und -vereinen hat sie hunderte von Publikationen zusammengetragen sowie aus Schenkungen oder Nachlässen bekommen. Doch sie hat auch selbst Bücher herausgegeben – allerdings nicht genug, wie sie mit 96 fand. «Der Geist will, aber der Körper macht nicht mehr ganz mit», sagte sie damals. Ihr Handgelenk schmerze und mache ihr das Schreiben schwer, aber trotzdem: «Es gibt so viel, das noch gesagt werden muss – ich muss unbedingt noch ein Buch schreiben.»
Der Kampf fürs Frauenstimm- und -wahlrecht hatte sich wie ein roter Faden durch Gostelis Leben gezogen. Von 1964 bis 1968 Präsidentin des Bernischen Frauenstimmrechtsvereins, anschliessend Vizepräsidentin des Bundes Schweizerischer Frauenvereine BSF, präsidierte sie 1970 und 1971 die Arbeitsgemeinschaft der schweizerischen Frauenverbände für die politischen Rechte der Frau. «Die Frauenrechtlerinnen der ersten Stunde hatten zwar keinerlei politisches Mitbestimmungsrecht, aber trotzdem arbeiteten wir politisch», erinnert sich Gosteli. «Viele Frauen hatten damals keine Ahnung, was Politik überhaupt ist oder was Feminismus bedeutet. Die Frauenbewegung hatte einen schlechten Ruf, deshalb führten wir politische Schulungen durch. Wir leisteten einen Teil der staatsbürgerlichen Erziehung, was eigentlich die Aufgabe der Bildungsinstitutionen gewesen wäre. Wir wollten den Frauen beibringen, in grösseren Dimensionen zu denken. Doch dieser Prozess ist auch heute noch nicht abgeschlossen.»
Als Marthe Gosteli 2017 mit 99 Jahren verstorben ist, wurde sie landesweit geehrt. «Ihre Stimme ist zwar verstummt, doch ihre Erscheinung und ihr Werk werden niemals verblassen», schrieb etwa das Magazin Die Ostschweizerinnen. 1989 hat sie den Trudi-Schlatter-Preis, 1992 die Burgermedaille der Burgergemeinde Bern und 2008 die Silberne Verdienstmedaille der Oekonomischen und Gemeinnützigen Gesellschaft des Kantons Bern erhalten. 2011 ist sie mit dem Menschenrechtspreis der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte ausgezeichnet worden, 1995 mit dem Ehrendoktor der Universität Bern, und im Februar 2017, nur zwei Monate vor ihrem Tod, erhielt das Gosteli-Archiv den Kulturpreis der Burgergemeinde Bern – einen der grössten Kulturpreise der Schweiz.
Auch wir möchten heute den Hut vor Marthe Gosteli ziehen, einer unermüdlichen Vorkämpferin aller Schweizerinnen, ohne die wir dieses Jahr vielleicht nicht das 50-Jahre-Jubiläum des Frauenstimm- und -wahlrechts feiern könnten.
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