Den Schmerz der anderen Seite wahrnehmen wollen
Der kanadische Arzt und Traumaspezialist Gabor Maté hat als Säugling den Holocaust überlebt, seine Grosseltern wurden in Auschwitz ermordet. In einem Video vom 29.10.23 nimmt er Stellung zu der Gewalt in Israel/Palästina. Wir haben einige Gedanken zusammengefasst.
Die Ereignisse vom 7. Oktober waren nach jeder Art der Interpretation ein grausames Massaker und haben unermessliches Leid und Tod über viele unschuldige Menschen gebracht. Dieser Schmerz muss anerkannt werden. Nichts, was Israel jemals getan hat, rechtfertigt diese Grausamkeit. Und nichts, was ich hier sage, soll es rechtfertigen.
Aber wir müssen auch sehen, dass diese Ereignisse nicht der Beginn der Geschichte waren. Wenn wir jemals Frieden wollen, müssen wir auch den Schmerz der anderen wahrnehmen. Und der Schmerz der anderen Seite, der Palästinenser, besteht seit 80 Jahren. Dieser Schmerz ist eine unwiderlegbare historische Tatsache, entstanden aus Massenmord und Folter. Ich selbst arbeite mit Frauen, die in israelischen Gefängnissen gefoltert wurden.
Woher kam der Hass, mit dem die Verbrechen am 7. Oktober ausgeführt wurden?
Machen wir uns klar: Die Menschen, die Massaker ausgeübt haben, wurden im grössten Konzentrationslager der Welt geboren und wuchsen dort auf: in Gaza. Diese Bezeichnung stammt von einem ehemaligen israelischen Militärangehörigen. Auch das ist keine Rechtfertigung der Verbrechen. Aber wenn wir Frieden wollen, müssen wir uns dafür öffnen, das Leid der anderen Seite zu sehen – oder wenigstens einen Teil davon.
Was bedeutet Antisemitismus – und wie hängt er mit der Kritik an Israel zusammen?
Es gibt Menschen, die Juden hassen, einfach weil sie Juden sind. Ebenso gibt es Menschen, die Moslems oder Schwarze hassen. Der Hass auf Juden ist jahrhundertealt und führte zum grössten Verbrechen der Menschheit, zum industriell organisierten Mord an einem ganzen Volk. Kritik an Israel kann genutzt werden, um den Hass auf Juden anzufachen.
Aber das gilt nicht für die meisten Menschen. Die meisten, die Israel kritisieren, wollen Gerechtigkeit – für beide Seiten. Sie kritisieren Israel nicht, weil es ein jüdischer Staat ist, sondern dafür, was es tut und was es für ein System aufgebaut hat. Worte wie Apartheid wurden von Israelis selbst dafür gegeben.
Wenn ich als Jude Israel kritisiere, dann gelte ich als selbsthassender Jude oder als Antizionist.
Aber Jüdisch-Sein ist nicht dasselbe wie Israel und wie Zionismus. Es gab in der Geschichte sogar viele Juden, die Zionismus kritisieren und die seine Gefahren voraussahen.
All diese Aktionen resultieren aus dem Leiden des israelischen Volkes. Und niemals hat Israel so gelitten wie in den letzten Wochen. Leid muss anerkannt werden. Wer leidet, braucht Unterstützung. Das Leid auf beiden Seiten.
Es ist fast unmöglich, über die gegenwärtige und geschichtliche Situation zu sprechen, ohne emotional zu werden. In jeder Richtung – Wut, Trauer, Angst. Wir haben das Recht auf Emotionen. Aber wenn wir ausschliesslich emotional reagieren, dann verschliessen und verteidigen wir uns. Das ist eine verständliche Reaktion. Aber so entsteht kein Frieden. Um Frieden zu haben, müssen wir den Willen aufbringen, die andere Seite zu verstehen. Wir sollen also nicht die Gefühle unterdrücken, sondern sie willkommen heissen – aber sie nicht unser Handeln steuern lassen.
Der 7. Oktober lässt sich nicht rechtfertigen. Ebenso wenig all das, was danach geschah. Was Israel jetzt tut – das absichtliche Töten vieler Palästinenser – ist keine Rache auf das, was am 7.10. geschah – es ist einfach eine Fortführung und Intensiviereung dessen, was Israel immer getan hat. Wir brauchen Waffenstillstand. Wir brauchen Verhandlungen über die Freilassung von Geiseln.
Lasst ein wenig Vernunft einziehen. Beendet die Bombardierungen, schliesst einen Waffenstillstand. In einer Woche sind in der winzigen Enklave mehr Bomben abgeworfen worden als in einem ganzen Jahr in Afghanistan. Wer kann jemals 3000 getötete Kinder rechtfertigen? Wer kann noch glauben, das sei Selbstverteidigung?
Ja, es gibt zwei Seiten in diesem Konflikt. Aber diese sind nicht gleich. Israel ist eine der grössten Militärmächte der Welt. Beide Seiten leiden. Das Leiden beider Seiten muss anerkannt werden. Aber politisch gibt es keine Gleichheit.
Ich erkenne an, dass manche Menschen schmerzhaft finden werden, was ich sage. Ich übernehme Verantwortung für alles, was ich sage. Ich übernehme Verantwortung dafür, wie ich es sage. Ich übernehme aber keine Verantwortung dafür, wie andere es hören und es interpretieren.
Lasst uns reden und zuhören mit so viel Frieden im Herzen, wie wir in dieser furchtbaren Situation aufbringen können. Und lasst uns gegenseitig respektieren, auch wenn wir anders denken.
Lesen Sie im Zeitpunkt auch:
Kollektives Trauma heilen / Teil 2
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Kommentare
Die Ereignisse vom 7 Oktober...
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...vorher mal lesen?
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Hallo Frau Bergstedt
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Verantwortung
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