Werden Frauen künftig überall vertreten sein, so wie es sich gehört? Wird ihre Arbeit endlich bezahlt? Eines ist sicher: Die Revolution wird feministisch – oder sie wird nicht. Die Montagsserie.

Liebe Zeitpunkt-Leser, schon bald findet diese Serie ein Ende. Nächsten Montag werden die letzten Visionen veröffentlicht. Bis dahin gilt: Gerne dürft ihr uns in den kommenden Tagen E-Mails schicken und uns erzählen, wie ihr euch die Schweiz in der Zukunft vorstellt und wünscht.
 

Die Schweiz von Morgen
 

«Ich wusste gar nicht, dass es in der Schweiz so viele Frauen gibt», sagte mir am 14. Juni 2019 ein Mann und traf damit unbewusst den Nagel auf den Kopf. In unserer Gesellschaft sind wir Frauen, sind unsere schlecht bezahlte oder unbezahlte Arbeit, unsere täglichen Kämpfe, unsichtbar. Wir sind untervertreten an Diskussionsrunden, in den Parlamenten, in den Medien und in der Öffentlichkeit. Das machte der Frauen*streik letztes Jahr – der grösste Streik, den es in der Schweiz je gab – überaus deutlich. Offensichtlich auch für diesen Mann. Wie ihm geht es wohl den meisten von uns.

Wenn man die Kotze der Kinder aufwischt, dann macht man das gratis.

So funktioniert Arbeit: Arbeitsstunden gegen Geld, Pausen und Ferien, Krankheitstage. Oder? Falsch gedacht. Das gilt nicht für alle. In unserer Gesellschaft gibt es Arbeit, die gar nicht als Arbeit anerkannt wird, für die es kein Geld und kein Recht auf Ferien gibt. Wenn man – oder meist frau – nämlich zu Hause putzt, Wäsche wäscht, Kinder erzieht, sie füttert und ihnen Geschichten vorliest, wenn man ihre Kotze aufwischt, betagte Eltern pflegt, einkaufen geht, Menschen tröstet, dann macht man das gratis.

Diese Care-Arbeit ist häufig unsichtbar. Ihr Ausmass aber ist gigantisch. 70 Prozent aller Arbeitsstunden, die auf der Welt geleistet werden, gehen in die Care-Arbeit. Das entspricht weltweit 12 Milliarden Franken. Pro Tag. Der monetäre Wert der unbezahlten Arbeit der Frauen in der Schweiz beträgt pro Jahr 248 Milliarden Franken – mehr als alle Ausgaben von Bund, Kantonen und Gemeinden zusammen. In der Schweiz wird insgesamt mehr unbezahlte Care-Arbeit verrichtet als bezahlte Erwerbsarbeit. Zwei Drittel davon übernehmen Frauen. Das hat handfeste Konsequenzen: Frauen verdienen in der Schweiz pro Jahr 108 Milliarden Franken weniger als Männer – obwohl sie stundenmässig beinahe gleich viel Erwerbsarbeit leisten. Als Folge haben sie nicht nur massiv weniger Einkommen und Vermögen, sondern auch um 40 Prozent tiefere Renten als Männer.

Die Bedeutung der Care-Arbeit als Voraussetzung für das Funktionieren der Gesellschaft wurde während dem Corona-Lockdown weltweit überdeutlich. Und es waren entsprechend vorwiegend die Frauen, die uns durch die Krise getragen haben: in der Pflege, an der Kasse der Lebensmittelgeschäfte, in der Reinigung der Spitäler, bei der Betreuung – und im Homeschooling – ihrer Kinder, beim Fernunterricht ihrer Schüler*innen und bei der Betreuung von betagten Angehörigen. Wo die politischen Entscheide über den Umgang mit der Krise getroffen wurden, waren Frauen hingegen kaum vertreten. Das Resultat ist bekannt: Kitas wurden vergessen und die Schutzmasken für die Hebammen auch. Doch hey, wer braucht schon Unterstützung bei einer Geburt?

Was muss sich ändern, damit die Care-Arbeit endlich die Anerkennung erhält, die sie verdient?

Erstens muss die Care-Arbeit sichtbar gemacht und gemessen werden. So gibt es immer noch viel zu wenig staatliches Zahlenmaterial, welches das ganze Ausmass der Care-Arbeit deutlich macht. Das fängt bei vermeintlichen Banalitäten an: So weiss der Bund zum Beispiel nicht, wie viele Kinderkrippen-Plätze es in der Schweiz gibt.

Es braucht Gratis-Kitas.

Die Schweiz ist ein absolutes Entwicklungsland, was die familienergänzende Kinderbetreuung angeht. Es gibt zu wenige Kitas und sie sind zu teuer. Was es braucht, ist ein flächendeckendes Netz an Kitas, die wie die Volksschule für alle zugänglich und einheitlich geführt sind. Kurz: Gratis-Kitas. Auch der neu eingeführte zweiwöchige Vaterschaftsurlaub ist letzten Endes nichts anderes als bezahlte Care-Arbeit. Wobei völlig klar ist, dass ein Vaterschaftsurlaub nicht reichen kann. Nötig ist eine gleichberechtigte Elternzeit sowie eine Verlängerung des Mutterschaftsurlaubs. Ausserdem müssen Tagesschulen, Altersheime sowie Pflege- und Betreuungsnetzwerke ausgebaut werden.

Zweitens: Berufe im Care-Sektor müssen besser bezahlt werden. Während des Lockdowns ist uns überdeutlich vor Augen geführt worden, welche Arbeit «systemrelevant» ist und und welche nicht. Die Löhne und Arbeitsbedingungen in diesen Berufen entsprechen dieser Systemrelevanz aber in keiner Art und Weise. Es braucht massiv höhere Löhne in der Pflege, mehr und bessere Gesamtarbeitsverträge sowie mehr Mitbestimmungsrechte der Angestellten.

Drittens muss die Care-Arbeit besser versichert werden. Das betrifft hauptsächlich, aber nicht nur, die Altersvorsorge. Es ist der Arbeit von feministischen Vorkämpferinnen wie Ruth Dreifuss zu verdanken, dass in der AHV die Betreuung und Pflege gleich rentenbildend wirkt wie die Erwerbsarbeit (entsprechend erhalten Männer und Frauen auch eine sehr ähnliche AHV-Rente).

‹Ich bin nicht frei, solange eine einzige Frau unfrei ist, auch wenn sie ganz andere Ketten trägt als ich.›

Viertens – und hier kommt alles zusammen – braucht es eine massive Verkürzung der (Erwerbs-)Arbeitszeit auf 25 Stunden pro Woche. Bei gleichbleibenden Löhnen, versteht sich. Nur damit können wir eine gerechte, hälftige Verteilung der Sorge- und Betreuungsarbeit zwischen den Geschlechtern erreichen. Und nur so erhält die Care-Arbeit die ökonomische und soziale Anerken-nung, die ihr zusteht.

All das wird nicht einfach vom Himmel fallen. Es braucht den Kampf (ja, Kampf!) und den Einsatz von uns allen. Und es braucht das Bewusstsein, dass wir in diesem Kampf den Blick nicht auf «unsere» eigene Lebensrealität verengen dürfen. Denn gerade die Care-Arbeit zeigt, wie eng alles international verflechtet ist. So können viele Frauen in der Schweiz nur Erwerbsarbeit nachgehen, weil häufig Frauen mit Migrationserfahrung ihre Care-Arbeit übernehmen. Wobei die Arbeitsbedingungen einer polnischen Care-Migrantin nochmals schlechter und nochmals entgrenzter sind. Sie muss genauso in unseren Kampf eingebunden sein, wie alle anderen. Denn, wie Audre Lorde sagte: «Ich bin nicht frei, solange eine einzige Frau unfrei ist, auch wenn sie ganz andere Ketten trägt als ich.»

Um es nochmals in aller Deutlichkeit zu sagen: unsere Gesellschaft basiert auf der Ausbeutung der un- oder schlecht bezahlten Care-Arbeit der Frauen weltweit. Ohne diese Arbeit, kein kapitalistisches System. Wenn wir eine Gesellschaft wollen, in der alle Menschen die von Lorde angesprochene Freiheit haben und ausleben können, wenn wir eine Gesellschaft wollen, welche die Bedürfnisse der Menschen ins Zentrum stellt und nicht die Profite der Wenigen, dann müssen wir die primär von Frauen geleistete Care-Arbeit ins Zentrum unserer Überlegungen stellen.

Oder um es anders auszudrücken: Die Revolution wird feministisch – oder sie wird nicht.»

 

Tamara Funiciello ist SP-Nationalrätin und Vorstandsmitglied von Solidar Suisse.

 


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