«Wir müssen uns wieder essentielle Fragen stellen»
Kunst und Kultur auf einem Biomarkt im belgischen Brüssel – das Projekt EssenCiel der Schweizer Schauspielerin Isabelle Barth bringt Menschen zusammen und schafft Raum für Austausch. Besonders während der Pandemie wurde der Marché de Gué für viele zu einem lebenswichtigen Fixstern – nicht nur wegen dem Biogemüse.
Das Projekt «Plauderkasse Basel», das wir vor kurzem vorgestellt haben, hat für gutes Feedback gesorgt. Sogar aus Belgien, wo eine Schweizerin vor einem knappen Jahr ein ähnliches Projekt aufgebaut hat: einen Begegnungsort auf einem Biomarkt in Brüssel, an dem über Alltägliches genauso geplaudert wird wie über das Einmachen von Gemüse und japanische Gedichte.
Am Stand, den sich das Projekt «EssenCiel» jeden Samstag Vormittag mit dem Bioprojekt «ElemenTerre» teilt, können Kinder malen und Eltern Kaffee trinken – und dabei ergeben sich in der Regel gute Gespräche. Angefangen hat das Ganze während der Pandemiezeit, als in Belgien ziemlich unverständliche Massnahmen galten. Eine Zeitlang wurde der Marché de Gué ganz geschlossen – während McDonalds geöffnet blieb –, und später wurde von der Polizei strikt kontrolliert, dass alle Masken trugen und auf dem Areal nicht beliebig hin und her schlenderten. Sondern sich an die vorgegebene Laufrichtung hielten, die mit Pfeilen auf dem Boden eingezeichnet war.
«Mir wird jetzt noch ganz anders, wenn ich mich daran erinnere», sagt Isabelle Barth, Gründerin von EssenCiel. Die Schauspielerin und Kunstschaffende aus Herrliberg lebt seit 10 Jahren in Brüssel. Das Marktprojekt betreibt sie in ihrer Freizeit – vor allem auch, weil der Markt in den letzten Jahren zu einem Fixpunkt in ihrem Leben geworden ist. «Während des Lockdowns haben wir als Familie sehr gelitten, weil der zwischenmenschliche Austausch uns gefehlt hat. Genau in dieser Zeit wurde unsere Tochter geboren, und es schien, als ob die Leute sogar Hemmungen vor der Interaktion mit einem Baby hatten. Auf dem Markt war es anders. Da hatten wir mit Menschen zu tun, die keine Angst vor dem Leben hatten.»
Der Markt ist für Isabelle viel mehr als nur ein Ort zum Einkaufen. Sonst könnte man ja auch in den Supermarkt. «Hier kommen Menschen zusammen, die sich kümmern. Um gesunde und nachhaltige Produkte, die aus dem Umland in die Grossstadt gebracht werden. Um die Erde, um die Pflanzen. Um die Infrastruktur dieses Begegnungsortes, den es schon seit 40 Jahren gibt. Und um die Menschen, die sich hier kennen und schätzen lernen.»
Doch was auf dem Markt fehlte, war Kunst und Kultur. So dass Isabelle begann, samstags eine kleine mobile Bühne aufzubauen, auf der gerade mal ein Stuhl Platz hatte, die aber trotzdem mit aller nötigen Technik ausgestattet war. Sie trug Texte auf Französisch vor, später kamen andere Performerinnen hinzu, die spanische, englische, deutsche und flämische Gedichte beisteuerten.
«Kultur hat die Kraft, Menschen zu verbinden», sagt Isabelle, «und regt Gespräch über Fragen an, die über Smalltalk hinausgehen. Wo stehe ich im Leben? Was brauche ich? Was will ich meinen Kindern mit auf den Weg geben? Mit welchen Themen befasse ich mich zu wenig, weil sie mich herausfordern oder verletzen? Gerade während der Pandemie wurde es zentral, sich diesen essenziellen Fragen wieder zu stellen. Deshalb heisst unser Projekt auch EssenCiel.»
Essenziell ist auch, dass man einander hat. So wie die Marktgemeinschaft, in der sich neue Freundschaften gebildet haben. «Das vermittelt mir ein Gefühl von Sicherheit. Menschen, zu denen ich eine Beziehung habe. Nicht Geld oder ein Haus oder ein Privatjet.»
Die Gruppe um EssenCiel wurde grösser, und Isabelle begann, japanische Haiku-Gedichte auf Zettel zu schreiben und unter den Marktbesuchern zu verteilen. Das führte zu neuem Gesprächsstoff zwischen den Gemüseverkäufern – von denen die meisten eigentlich Kunstschaffende sind – und ihren Kunden. Genauso wie der Briefkasten, in denen alle den Titel ihres Lieblingsgedichtes einwerfen konnten – und dieses in der Folgewoche von Isabelle vorgetragen bekamen. Es gibt Malbücher für Kinder, Kochbücher für Erwachsene, Kaffee und ab und zu Konzerte.
Kunst und Kultur sind auf dem Marché de Gué angekommen. Doch wie lang sie noch dort bleiben dürfen, ist unsicher. Nach vier Jahrzehnten beginnt die Gemeinde plötzlich, pingelig zu werden, Marktstände abzumessen und Geld zu verlangen. «Ob wir uns das noch leisten können, weiss ich noch nicht», sagt Isabelle mit Bedauern. «Wir sind allerdings schon im Gespräch mit der Gemeinde und hoffen sehr, dass sie verstehen, warum das Projekt wichtig ist: Genau wie bei der Plauderkasse und anderen Projekten wie Zuhörkiosken geht es auch hier darum, gegen Einsamkeit und soziale Isolierung zu kämpfen. Es geht den Menschen einfach besser und sie bleiben gesünder, wenn sie Teil einer Gemeinschaft sind und Möglichkeit zum Austausch haben. Hoffen wir, dass wir Gehör finden.»
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