Wenn Rechtssprechung Ungerechtigkeit besiegelt

Was berechtigt europäische Modeschöpferinnen und Pharmakonzerne dazu, Jahrhunderte altes indigenes Wissen zu stehlen und daraus Profit zu schlagen? Der gesunde Menschenverstand würde sagen: nichts. Doch internationale Abkommen zeigen, dass zwischen Recht und Gerechtigkeit ein grosser Abgrund klafft. Kolumne.

Ob es um Heilkräuter oder um Stoffmuster geht – Europa bedient sich nach Belieben an indigenem Wissen. / © Pixabay

Meine Jahre in Lateinamerika haben mein Denken vollkommen verändert. Doch die  anderen Lebensweisen und Weltbilder haben nicht nur meinen Horizont erweitert. Viel einschneidender ist, was ich über mein eigenes Land und die globalen Zusammenhänge gelernt habe, die nach wie vor auf der Ausbeutung des Südens beruhen. Und dabei geht es nicht nur um materielle Ressourcen, sondern auch um die unverfrorene Aneignung von indigenen Kenntnissen und Traditionen. Hier ein Beispiel:

2015 wurde die französische Modeschöpferin Isabel Marant mit Plagiatsvorwürfen konfrontiert. Klägerin war eine Gruppe von Kunsthandwerkerinnen der Mixe-Indigenen aus Mexiko. Marant hatte eine Bluse «entworfen», deren Muster, Schnitt und Farbe fast exakt einem ihrer traditionellen Kleidungsstücke entsprach. Mit dem pikanten Unterschied, dass die Mixe die Bluse für umgerechnet 15 Franken verkaufen, während Marant dafür 230 Franken einsackt. In der Klage wurde unter anderem darauf hingewiesen, dass die verwendeten Motive nicht nur dekorativ sind, sondern in der Mixe-Kultur den tieferen Sinn des Lebens symbolisieren und für Pflanzen, Wasser, Sterne und die Erde stehen, die mit den Menschen in Verbindung treten. Auf den europäischen Laufstegen wird diese Symbolik jedoch vollkommen zweckentfremdet.

Die Klage wurde abgewiesen, denn im Rahmen der internationalen Gesetzgebung können nur Einzelpersonen oder Unternehmen das Recht auf geistiges Eigentum anmelden. Doch es kommt noch schlimmer: Antik Batik, ein anderes französisches Modeunternehmen, hat das selbe Mixe-Design wie Marant ebenfalls verwendet und danach Plagiatsvorwürfe gegen Marant erhoben. In diesem Fall war der Anspruch auf Urheberrecht jedoch zulässig – eben weil er von einem Unternehmen kam. Dabei spielt es keine Rolle, dass Antik Batik sich genauso wie Marant an den Motiven der Mixe vergriffen hat. Und zwar, ohne die Einwilligung der eigentlichen Urheberinnen einzuholen oder sie am Gewinn zu beteiligen.

Die Mixe hätten auch in der Schweiz keine Chance gehabt, ihre Rechte geltend zu machen. Das Eidgenössische Institut für Geistiges Eigentum erwähnt zwar in der Kategorie Design explizit auch Stoffmuster. Um ein solches zu schützen, muss es aber bei einem nationalen oder internationalen Patentamt registriert werden, und dies kostet je nach Fall tausende bis zigtausende von Franken. Pech für die Kunsthandwerkerinnen aus Mexiko, die sich dies niemals leisten könnten. Pech, denn die Spielregeln gibt halt wie so oft der Globale Norden vor. Gelten sollen sie allerdings auch für Menschen, Bevölkerungsgruppen und Länder, die an der Erarbeitung der entsprechenden Regelwerke nicht beteiligt waren.

Die Weltorganisation für geistiges Eigentum möchte zwar schon länger ein Rechtsinstrument einführen, das der indigenen Bevölkerung in solchen Fällen eine Gewinnbeteiligung ermöglichen würde. Doch zu Stande gekommen ist diese Schutzklausel bisher nicht, da sich praktisch alle Industriestaaten dagegen aussprechen. Sie fordern, dass Wissen dieser Art weiterhin als Allgemeingut gelten soll.

Und es geht längst nicht nur um Kleider, sondern auch um lebenswichtige Themen wie Medizin. Wenn sich etwa ein europäischer Pharmakonzern vom Heilpflanzenwissen indigener Völker «inspirieren» lässt – sprich es sich ohne Gegenleistung aneignet –, kann er darauf problemlos Patente anmelden. Das heisst: Er verdient Millionen, ohne den Entdeckerinnen dieser Pflanzen, den Hütern dieses Wissens, auch nur einen Rappen zu schulden.  

Internationale Abkommen sind weit davon entfernt, ein System zu etablieren, das man «gerecht» nennen könnte. Die so genannte Legalität ist vielmehr darauf ausgerichtet, den Interessen bestimmter privilegierter Gruppen zu dienen. Was früher Kolonialismus hiess und offiziell als überwunden gilt, wird heute auf subtilere Art weiter betrieben: die Ausbeutung der materiellen und geistigen Ressourcen indigener Völker durch die so genannt fortschrittliche, entwickelte «Erste Welt». Die Frage ist nur, ob diese sich tatsächlich in eine gute Richtung entwickelt hat, wenn sie nicht einmal den Unterschied zwischen Recht und Gerechtigkeit begreift.

Über

Nicole Maron

Submitted by christoph on Mo, 04/19/2021 - 17:25

Nicole Maron (*1980) aus Zürich ist Journalistin und Buchautorin. Seit 2017 lebt und arbeitet sie in Bolivien und Peru. Ihre Schwerpunkte sind umwelt- und sozialpolitische Themen wie Flucht und Migration, globale Gerechtigkeit, Konzernverantwortung und Menschenrechte. 

Von Nicole Maron ist zuletzt erschienen: «Das Blut des Flusses» – Der in Espinar/Südperu gedrehte Dokumentarfilm zeigt auf, welche gravierenden Schäden das Schweizer Bergbauunternehmen Glencore vor Ort anrichtet.
https://www.youtube.com/watch?v=9Rj7lJc1GWY