3 Fragen an Autodidakt Wolfgang Sechser
Die grund-Stiftung fördert ein Lernen nach inneren Impulsen, ein individualisiertes Zusammenleben und selbstverantwortliches Denken – bei Kindern und Jugendlichen genauso wie bei Erwachsenen. Die unter dem Dach der Stiftung entstandene Gemeinschaft Schloss Tempelhof im deutschen Kreßberg besteht aus 100 Erwachsenen und Familien mit rund 50 Kindern und funktioniert wie ein kleines Dorf. Eine weitere Gemeinschaft bei Kempten und ein Stadtteilprojekt in Crailsheim zeigen: Das Prinzip hat Erfolg. Gründungsmitglied und Stiftungsratsvorsitzender Wolfgang Sechser ist überzeugt: «Gemeinsam dem eigenen inneren Plan zu folgen, entwickelt selbstbestimmte Menschen, die ihr volles Potenzial entfalten können – während das öffentliche Bildungssystem die Jugendlichen oft nur zu Industriearbeitern und Konsumentinnen verbildet.» Im Interview mit dem Zeitpunkt erklärt der 60-Jährige, wie das Leben in der Gemeinschaft aussieht und warum diese Art von Zusammenleben und -arbeiten auch Externen – die herzlich willkommen sind – ganz neue Welten eröffnen kann.
Zeitpunkt: In der Gemeinschaft Schloss Tempelhof leben und arbeiten Menschen verschiedener Generationen gemeinschaftlich zusammen. Wie ist dieses Projekt zu Stande gekommen und wie sieht das Alltagsleben heute aus?
Wolfgang Sechser: Die Idee entstand 2007 in München in einer Gruppe von rund 20 Gleichgesinnten. Wir wollten nicht einfach eine urbane Wohnbaugenossenschaft, in der man ein paar Gemeinschaftsräume teilt, sondern ein echtes Zusammenleben, -arbeiten und -feiern. Unsere Gemeinschaft funktioniert wie ein kleines Dorf und bildet die gesamte Bandbreite und somit die Vielfalt der Gesellschaft ab: verschiedene Generationen, verschiedene soziale Schichten, verschiedene Weltanschauungen.
Wir sind nicht dogmatisch und verlangen nicht, dass all unsere Mitglieder gleich denken. Im Gegenteil: Wir wollen das freie Denken fördern. Was wir teilen, ist der Gemeinwohlgedanke und das Ziel, einfacher und nachhaltiger zu leben. Alles baut auf Freiwilligkeit, Selbstbestimmtheit und Selbstverantwortlichkeit auf. Und zwar schon bei den Kindern: Die Kleinsten haben die Möglichkeit, in unseren Waldkindergarten zu gehen. Später wechseln sie in die Schule, doch wir legen kein verbindliches Alter dafür fest. Manche haben schon mit vier Lust, in den Schulbereich zu wechseln, andere erst mit sieben. Und eigentlich ist das ganze Dorf mit seinen Handwerks-, Seminar- und Landwirtschaftsbetrieben die Schule.
Wie funktioniert ein selbstbestimmtes Lernen konkret und inwiefern fördert es die unterschiedlichen Potenziale der Kinder und Jugendlichen?
Bei uns gibt es keine Noten, keine Bewertungen und keine Klassenräume. Die Lernumgebung ist in Zonen aufgeteilt, zum Beispiel die Begegnungszone, der Stillebereich oder der Bewegungsbereich. Das Lernen findet in einem freien Umfeld und meist in Form von Projektarbeiten oder spielerischem Lernen statt. Das löst bei neuen Eltern oft Skepsis aus, doch Fakt ist, dass unsere Jugendlichen bei der extern auf Staatsschulen durchgeführten Mittleren Reife und den Hauptschulabschlüssen meist unter den Besten sind. Bei uns lernen die Jugendlichen Dinge, die ihnen helfen, ein freies, wirklich demokratisches und selbstbestimmtes Leben zu führen. Und ihr ganz eigens Potential auszuprägen
Die Lernumgebung ist in Zonen aufgeteilt, zum Beispiel die Begegnungszone, der Stillebereich oder der Bewegungsbereich.
Die öffentlichen Schulen und Universitäten dagegen sind oft darauf angelegt, die jungen Menschen zu passenden Mitgliedern des Wirtschaftssystems zu machen: funktionierende Industriearbeiter und Konsumentinnen, die aber eigentlich keine Ahnung haben, wer sie sind und wie das Leben in der Welt gelingen kann. Es wird viel zu stark die rationale und kognitive Ebene ausgebildet. Statt den jungen Erwachsenen beizubringen, selbständig zu denken oder Dinge zu hinterfragen, setzt man ihnen gewünschte Antworten vor, und sie gewöhnen sich daran, zu konsumieren. Wir merken das ganz deutlich, wenn externe Jugendliche in unseren Projekten arbeiten kommen. Sie sind oft überfordert mit der Freiheit, sich selbst zu organisieren oder etwas frei zu gestalten.
In der Corona-Zeit, in der viele bei uns festsassen, haben unsere Jugendlichen, die schon ihren Abschluss hatten, zum Beispiel eine eigene Firma aufgebaut: «Jugend baut». Wir Erwachsenen sind ihnen helfend zur Seite gestanden, wenn sie auf uns zukamen, aber im Grunde haben sie sich alles selbst erarbeitet, von den juristischen Grundlagen der Firmengründung bis zur Umsetzung ihrer ersten Bauprojekte und Aufträge.
Die Schule und die Anschlussangebote wie die Orientierungswerkstätten stehen auch Externen offen. Welche Erfahrung haben Sie bei diesen Begegnungen gemacht?
Uns ist es ganz wichtig, keine Inselstrukturen zu schaffen. Unsere Jugendlichen können mit ihrem Schulabschluss auch in Betriebe ausserhalb der Gemeinschaft arbeiten gehen. Meist werden sie dort sehr gerne genommen. Auf der anderen Seite möchten wir auch, dass Menschen von aussen hinzukommen und bei unseren Projekten mitarbeiten. Wir wollen echte Diversität und konsensuale Diskurse in aller Vielfalt.
In den letzten zwanzig Jahren wurde die Gesellschaft politisch immer mehr vereinheitlicht. Die Polarität und der Spannungsbogen gingen verloren, und alles wurde in einer künstlichen Mitte zusammengeschoben. Doch so funktioniert echte Demokratie nicht. Gerade in der Coronakrise hat man gesehen, dass es vielen Menschen schwerfällt, sich eine eigene Meinung zu bilden und diese auch zu vertreten. Wenn ich mir unsere Kinder und Jugendlichen ansehe, merke ich immer wieder: Die sind viel demokratischer als selbst wir Erwachsenen in der Gemeischaft. Schon die Kleinen halten jeden Morgen ihre Versammlung ab, tauschen sich über die Bedürfnisse aus und finden spielerisch Wege, die dann auch der Gruppe dienen.
Mehr Infos:
Grund-Stiftung
Schule für freie Entfaltung
Orientierungswerkstätten am Tempelhof
Jugend Baut
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