«Der hohe Stresslevel hat sich reduziert»

Miriam Selmi Reed ist Grafik-Designerin und Dozentin. Seit mehreren Jahren beschäftigt sie sich mit politischen Themen und hat diese in ihren Illustrationen festgehalten. In unserer Serie «Was ist aus uns geworden?» erzählt sie, welche Erlebnisse der vergangenen zwei Jahre prägend für sie waren.

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Zeitpunkt: Wie hat sich Ihr Arbeitsumfeld seit der Coronakrise verändert? 

Miriam Selmi Reed: Unsere Tätigkeit als Grafiker und Illustratoren hat sich nicht gross verändert. Was sich aber verändert hat, ist, dass man sich für Sitzungen online, anstatt persönlich in einem Sitzungsraum trifft. 

Was hat sich in Ihrem Leben verändert? 

Unser Freundeskreis hat sich verändert. Der hohe Stresslevel hat sich aber reduziert, weil sich unnötiger Ballast, ohne mein Zutun, reduziert hat. Leider erwarten meine Kunden und die Schulen, an denen ich Grafik-Design unterrichte, dass ich ununterbrochen online erreichbar bin. Das zeigt, dass Homeoffice gute, wie auch schlechte Seiten hat. 

Wie geht es Ihnen heute?

Weder schlechter noch besser; es ist einfach vieles anders. Ich hatte vor der Coronakrise einen kleinen Freundeskreis, weil ich fast 15 Jahre in den USA als Grafikerin gearbeitet habe und nur selten in der Schweiz war. Durch die Coronakrise musste ich aus meinem Schneckenhaus hervorkriechen und neue Menschen kennenlernen. Doch es hat sich gelohnt; dadurch ergaben sich auch beruflich neue Perspektiven. 

Wie hat sich Ihr soziales Umfeld verändert? 

Ich habe das Glück, dass mein Partner Mike Reed unser kleines Designstudio leitet. Wir denken privat wie beruflich genau gleich und haben den Lockdown im Frühjahr 2020 ohne Probleme gemeistert. 

In unserer Familie in der Schweiz gab es zwei Lager: Massnahmenbefürworter und -gegner. Das Gleiche gilt für unsere Familie in den USA. Wir denken jedoch alle liberal und es gab vielleicht ein paar hitzige Diskussionen. Aber Weihnachten haben wir trotzdem gemeinsam gefeiert. 

Welche Erlebnisse der letzten zwei Jahre waren für Sie einschneidend?

Am Freitag, 13. März 2020 telefonierte ich mit einer Kundenberaterin der Klubschule und sie sagte: «Wart’s ab, der Bundesrat wird unsere Schulen schliessen.» Spontan erwiderte ich: «Das können die doch nicht tun, oder!?» Als es tatsächlich so weit war, war mein erster Gedanke: Das erinnert mich an 1933; die Geschichte wiederholt sich. Auch zog ich Parallelen zur Spanischen Grippe.

Und ein sehr trauriges Ereignis war, als ich erfuhr, dass sich eine meiner Kursteilnehmerinnen während des Lockdowns das Leben nahm. Eine junge Mutter mit zwei kleinen Kindern, das brach mir das Herz. 

Was ich ebenfalls nie vergessen werde: Als ich vor der Abstimmung zum Covid-Gesetz Filmaufnahmen von den Plakat-Strassenaktionen machte, wurden wir von den Autofahrern übel beschimpft. 

Welche Hoffnungen und Sorgen haben Sie für die Zukunft?

Wir erleben im Moment eine digitale Industrialisierung. Die Künstliche Intelligenz wird viele Arbeiten übernehmen, was Vor- und Nachteile bringt. Für mich persönlich hat es den Vorteil, dass ich online unterrichten kann und nachts nicht mehr die Bahn nehmen muss, um als Dozentin zu arbeiten. Die digitale Überwachung, die von den meisten noch unterschätzt wird, ist ein erheblicher Nachteil. Ein Blick nach China sollte reichen: Abschaffung des Bargelds und Überwachung mittels Zertifikate und QR-Codes. Hier werden Erinnerungen an die Bücher YEHT und 1984 von George Orwell wach. 

Wie hat sich die Coronakrise auf ihr heutiges Leben ausgewirkt?

Ich fand es bedenklich, wie Menschen im Winter 2021 durch die Zertifikatspflicht vom öffentlichen Leben ausgeschlossen wurden. Dadurch habe ich das Vertrauen in die Behörden verloren; auch zu Ärzten und Spitälern. 

Treffe ich heute einen Mitmenschen, frage ich mich jedes Mal: ist er ein Massnahmenbefürworter oder -kritiker? Unsere Gesellschaft versucht fast zwanghaft, die letzten zwei Jahre zu vergessen, was ich persönlich nicht schaffe. Ich bin seit 2009 als politische Illustratorin tätig; vor dieser Entwicklung habe ich in meinen Bildern bereits mehrfach gewarnt. Dieser Herbst könnte entscheidend werden.

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