Der rote Löwe ­– und die Alchemie von Liebe und Macht (Teil 3)

Für das Wesentliche des Lebens gibt es im offiziellen Narrativ kein Bewusstsein mehr, und schon gar keine Antworten. Dafür werden im Sekundentakt immer absurder und dümmer anmutende Meinungen und Antworten zu künstlich erzeugten Lebensinhalten produziert. Die Folge davon ist, dass wir uns eine immer realitätsfremdere Welt nicht nur denken, sondern sogar erschaffen. Mit dem wirklichen Leben wird diese immer auf Kollisionskurs bleiben – und das ist vielleicht ihr einziger Sinn. Aus der Serie «Nachrichten aus der Welt von morgen» von Andreas Beers. Teil 3 dieser Geschichte.

© Foto: Mia Leu

Was ist der Sinn meines Lebens? Wo befinde ich mich im Schlaf, und was bedeuten meine Träume? Wo bin ich nach dem Tod … , und wo vor meiner nächsten Geburt? Das sind doch die wesentlichen Fragen, die uns weiterbringen, sinniert Milòsch vor sich hin. Noch immer staunt er über die traumwandlerische Naivität vieler Menschen hier in Budapest, und wie sie seit Jahrzehnten in ihrer SCC (Smart-City-Community) vor sich hinvegetieren. Ja genau, vegetieren, anders kann er es nicht nennen: Denn wie Pflanzen in der HSC (Hors-Sol-Cultivation) werden sie gezogen und genährt. Sogar das Denken wird ihnen wie eine Nährlösung eingeflösst.

Milòsch erinnert sich gerade, hier unten im kühlen Gewölbe auf einer Steinbank sitzend, an das letzte Gespräch mit einem seiner Patienten, dem Leiter des städtischen GANs-Security-Observers. Er leidet unter der immer häufiger auftretenden TPPF (Trans-Personalen-Persönlichkeits-Fragmentierung) und sucht ihn deshalb unerlaubterweise auf. Unerlaubt, da Milòsch zu den offiziellen so genannten «Lauschern» gehört, die ausserhalb der Global-Community leben. Wie auch die «Gärtner» werden sie normalerweise von den Cyborgianern nicht ernst genommen und gemieden.

«Ich werde bald wahnsinnig!», brüllte sein Patient. Und weiter: «Wie soll ich das nur lösen? Über 90% der Einwohner unserer Stadt», er meinte damit Budapest, «sind arbeitslos. Sie beziehen den ESB (Existenz-Security-Bonus), sind dem IMOS (Individual-Medical-Observer-System) angeschlossen und werden medial dauerbetreut. Es gibt jedoch einige resistente Querulant*innen», schreit er aufgebracht weiter, «die durchschauen langsam, wofür die GANs – die Generativ Adversarial Networks – eigentlich da sind! Das geht nicht mehr lange gut, die drehen jetzt schon durch!  Ich muss hier den Scheiss ausbaden und die Grünen Herr*innen sitzen weit weg in ihren Bio-Med-SSAs (Biological-Meditations-Security-Space-Areals) in Sicherheit.»

Sein Patient zitterte, schwitzte und fummelte dauernd an seinem Implantat herum, das unaufhörlich Signale von sich gab und unter der Haut violett aufleuchtete. Das tat es immer, wenn Milòsch während der Therapiegespräche mit seinem Helioxant die Umfeldabhörung deaktivierte. «Naja», sagte Milòsch trocken, nach einer kurzen Pause, «dein Zustand ist auch nicht besser.»

Die Cyborgianer leben ein sinnentleertes Dasein. In analogem Rhythmus oszillieren sie in ihren Dauerschleifenvisionen. Der letzte grosse Krieg mit seiner mittelalterlichen Art des Militär- und Finanzterrors hatte nicht nur Europa, sondern auch einen grossen Teil der Welt lahmgelegt. Vorsatz und Ziel der Hauptkriegstreiber war, dem Cyborgianertum, dessen Wurzeln bis in die1968er Jahre zurückreichen, einen sicheren Boden für die kommenden Jahrhunderte zu bereiten. Die Wiedergeburt des dogmatisch-kirchlichen Machtanspruchs war neu auferstanden: Der neue Gott war nun nicht mehr im Himmel, sondern im Virtuality Space. Das Smartphon wurde zur neuen Bibel und die Social Medias zum digitalen Beichtstuhl. Man reist auch nicht mehr in Sänfte und Ornat,  sondern in veganem Anzug und Tesla. Was geblieben ist, ist das Spiel von Macht und Ohnmacht, nur viel smarter: Soft-Skills, das System wirkt von innen!

Budapest, 13. August 2197, ein heisser Sommertag. Die hochaufragenden Akazien verströmen ihren süsslich-betäubenden Duft in die schwere, bleierne Schwüle der Stadt. Wie ein dicker, ausgerollter Teppich liegt die Hitze in den fast menschenleeren Alleen. Ihre gelbweissen Blüten schweben, von den heissen Aufwinden getrieben, in Wolken durch die Luft. In Häuserwinkeln und an den hohen, noch erhalten gebliebenen Gehsteigsteinen, sammeln sie sich zu weichen, wabernden Blütenhaufen. Wir befinden uns rund zwanzig Meter unter dem ehemaligen Café Gerbeaud, am Régi Színháztér 33, in einem alten Kellergewölbe. Vor mehr als vierhundert Jahren beherbergten diese weitläufigen Gewölbe die spagyrische Werkstatt von Básileus Adám Cadmòn.

Wie in einigen alten Quellen beschrieben, stammt von ihm das Elixier des Lebens: der rote Löwe. Ein fatales Gift, wie sich später herausstellte, das, bei falscher Einnahme, den sofortigen Tod zur Folge hatte. Geist und Seele konnten sich danach nicht mehr auf natürliche Weise dem läuternden Weg in der übersinnlichen Welt hingeben. Schon kurze Zeit nach dem Tod wurden sie, durch den Sog eines wirren Astralstrudels, in die nächste Inkarnation hineingetrieben.

Das Gewölbe und die daraus steil aufsteigende Treppe leuchtet inzwischen, im nur noch kalt fluoreszierenden Licht. Langsam wird ihm kühl hier unten, denn die wärmende, gelblich leuchtende Energiestrahlung seines Helioxanten ist erschöpft. Milòsch schüttelt verärgert sein Kopf. «Schon wieder habe ich mich in diesem Gedankengespinst verloren!», sagt er in die Stille des hohen Gewölbes hinein. «Nützt nichts und führt zu nichts!», setzt er nach, und seine Stimme flattert wie eine Schar Fledermäuse, ins Dunkel der Gewölbehalle. Dieser ganze Gedankenwust unterbrach die Unterhaltung mit Mária. Die Bank unter der gespaltenen Linde ist inzwischen leer … Er sieht die Anhöhe mit dem im Schatten liegenden fünfeckigen Landsitz, eine architektonische Idee ihres Grossvaters. Sie kennt mich ja, sinniert er weiter und weiss, dass er diesbezüglich ein Luftikus ist. Sie nimmt es niemals persönlich. Milòsch bewundert sie dafür und für vieles mehr: Sie lebt vieles, was ich mir nur zusammendenke! Er lächelt in sich hinein, bei diesen Gedanken und hört ihre Reaktion darauf: «Na mein Lieber, bist du wieder mal auf deinem alten Mönchstrip und legst dir den Büssergürtel um! Du tust was du kannst auf deine Art. Das ist sehr viel und wichtig in dieser Zeit.»

Milòsch steht auf, steckt das Bruchstück des Löwengefässes in seine Tasche und klettert die steilen Stufen hinaus aus dem Gewölbe. Mit dem Rücken stemmt er die steinerne Bodenplatte an ihrem Ende hoch, und feiner weisser Staub rieselt ihm ins Gesicht. Nun ist er im Keller des ehemaligen Café Gerbeaud. Er steigt über ein Meer weisser Porzellanscherben und weiter über eine steile Treppe, hinauf durch eine schwere Kellertüre. Er tritt hinaus in eine schmale, mit Bruchsteinen übersäte Seitenstrasse. Heisse, staubige Luft, mit darin tanzenden weissgelblichen Blüten wirbeln ihm entgegen. «Diese Exkursion ist nun auch beendet», sagt Milòsch, tätschelt im Davonschreiten auf seine Ledertasche und spürt die Mähne des Löwenkopfes.» «Na dann, komm nach Hause!», hört er Mária sagen.

Fortsetzung folgt am 11. April

  

«Alterius non sit, qui suus esse potest – Nicht von einem anderen abhängig mache sich, wer sein eigener Herr zu sein vermag.» (Theophrastus Bombast von Hohenheim, genannt Paracelsus, (* 1493 oder 1494 in EggKanton Schwyz; † 24. September 1541 in Salzburg )

 

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Andreas Beers aus Bern ist Landwirt, Arbeitsagoge und Lehrer. Er kultiviert die Erde, sät und erntet, er denkt, spricht und schreibt über: Mensch, Erde und Himmel, oder was wir zum Leben brauchen.