Als wir letztes Jahr mit der katholischen Schwester Ariane und Pfarrer Karl Wolf sprachen, war die Not der Menschen auf der Gasse und an der Langstrasse in Zürich wegen der Coronakrise sehr gross. Wie sieht es heute aus? Schwester Ariane hat den Verein «incontro» gegründet, der Mahlzeiten verteilt, und Karl Wolf, ein Freund der katholischen Gemeinschaft Sant´ Egidio, hat die Gassenarbeit von «incontro» mitaufgebaut. In unserer Serie «Was ist aus uns geworden?» lassen beide die Corona-Krise Revue passieren und erzählen von den aktuellen Herausforderungen.

Langstrasse in Zürich: Schwester Ariane und Pfarrer Karl Wolf gehen auf die Menschen zu. © zvg

In den letzten zwei Jahren hat sich unsere Arbeit ständig verändert – sozusagen mit den Krisen, Herausforderungen, die die Gesellschaft laufend getroffen hat und trifft: Lockdown, Kurzarbeit, Arbeitslosigkeit, Öffnung, erneute Corona-Wellen, Krieg in der Ukraine… Was sich gerade in der Gesellschaft und Welt abspielt, spiegelt sich bei uns in unserer Arbeit auf der Gasse und in Menschen, die in ihren unterschiedlichsten Nöten und Situationen zu uns kommen, wieder.

Unsere Arbeit verändert sich laufend: Wir sind gefordert, immer neu wahrzunehmen, ganz neu auf die Menschen zu hören, auf die konkreten Situationen zu schauen und zu verstehen, was die Menschen brauchen – ja zu verstehen, wo genau Gott uns herausfordert, auf die Not der Menschen eine adäquate Antwort zu geben.

Krieg und Frieden

Seit fünf Monaten – seit dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine – wächst die Reihe in der Mensa hinter dem 25-Hours-Hotel an der Langstrasse stets. Jeden Tag verteilen wir bis zu 400 Menüs sowie Lebensmittel und Hygieneartikel. Die Fragen nach Wohnung, nach Arbeit und Deutschkurs tauchen auf. Die Geflüchteten suchen nach Perspektiven und kommen auf uns zu. Ebenso wird professionelle psychologische Unterstützung gebraucht, etliche leiden sehr unter ihren traumatischen Erfahrungen durch den Krieg. Das Leben in der Fremde macht ihnen zu schaffen – weit weg, getrennt von ihrer Familie.

Gleichzeitig wurde in den letzten Monaten durch die Geflüchteten aus der Ukraine die Reihe mit den über 50 Nationen neu aufgemischt. Alle mussten sich neu finden und einander kennenlernen: Verschiedene Kulturen begegnen sich oder prallen aufeinander. Mit der Zeit entstanden Verständnis und auch so manche Freundschaft. Ein älterer Schweizer trifft sich jetzt jeweils vor der Essensausgabe mit einem Ukrainer, um ihm Deutsch beizubringen.

Vulnerabilität stellt Schwellen in Frage und fordert Flexibilität

Was für unsere Arbeit auf der Gasse entscheidend bleibt, ist die «Niederschwelligkeit». Es gilt, nahe bei den vulnerablen Menschen zu sein. Die notvolle Situation braucht Flexibilität – auf jede neue Situation einzugehen. Auf diese Weise versuchen wir mit dem Menschen, der vor uns steht, seinen Weg zu gehen.

Auf dem «Horchposten»

Die Welt, wir alle werden mit Unsicherheit, existentiellen Fragen, Krankheit, Krisen und Krieg konfrontiert. Wir alle sind gefordert und herausgefordert. Die Verankerung in uns selbst – im eigenen Herzen – wird für uns um so wichtiger: Aus der Stille – aus dem inneren Hören – aus dem Hören auf den, der das Geheimnis jedes Menschen ist – heraus zu leben. Wach und zugleich schauend auf die Zeichen der Zeit. Hörend auf die Menschen, die zu uns kommen. Und dann ganz konkret zu handeln: Am Abend Lebensmittel und Essen zu verteilen, den Menschen auf Augenhöhe zu begegnen, jemanden auf ein Amt zu begleiten, bei der Arbeitssuche unterstützen, kurzfristig ein Zimmer zu organisieren…

Zum Aufbruch herausgefordert

Die Krise ist nicht vorüber. Die Corona-Krise ist als solche in den Hintergrund getreten. Eine neue Krise – der Krieg in der Ukraine – hat uns erfasst. Wir sind für jeden Tag dankbar – für all das, was entstehen durfte in einer Zeit, die für alle sehr herausfordernd war und jetzt wieder ganz neu ist. Wir sind dankbar für jeden Menschen, der sich von der Not berühren lässt und sich entscheidet, seinen unterstützenden Beitrag zu geben: Sei es als Freiwillige, in dem sie regelmässig ihreZeit schenkt. Sei es, dass er Lebensmittelsäcke packt und zu uns bringt. Oder uns mit Naturalspenden oder Geld unterstützt. Wir denken da zum Beispiel an Andrea. Sie backt jede Woche viele Brote und bringt sie vorbei. Ein wunderbarer Beitrag. Mit den Freiwilligen und ihren effizienten Beiträgen geht es gut, der konkreten Not eine konkrete Antwort zu geben.

Die Beziehung zu den Menschen sind in den letzten zwei Jahren in die Tiefe gewachsen.

Die Begegnung will zu einem Weg werden

Menschen in verschiedenen Notlagen, ganz unterschiedlichen Alters und Herkunft kommen zu uns: Geflüchtet aus Kriegsgebieten, Obdachlose, Wanderarbeiter, Menschen mit Suchtproblematik, Bedürftige, Familie, Einzelpersonen und alte Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen in die Armut geraten sind, Frauen und Männer aus dem Milieu… Viele kommen täglich. Wir begegnen einander. Und wir gehen Tag für Tag durch Hoch und Tiefs mit ihnen einen Weg. Es entstehen Freude über das Wiedersehen und Tiefe in den Beziehungen. Es entwickeln sich Vertrauen und Freundschaft, die neue Schritte für den Einzelnen in seinem Leben ermöglicht: Ausstieg aus der Prostitution, Reintegration aus der Obdachlosigkeit ins Berufsleben, Fussfassen als Geflüchteter im Arbeitsleben… Die Beziehung zu den Menschen sind in den letzten zwei Jahren in die Tiefe gewachsen und für einige zu einem Schritt in ein neues Leben geworden.

Die Mensa

Der erste Tag des Lockdowns im März 2020. Die Frage einer Frau – wir nennen sie Maria – aus dem Milieu an uns: «Könnt ihr mir helfen? Ich habe alles verloren – mein Zimmer und mein Einkommen. Ich bin obdachlos und habe nichts zu essen.» Das war ihre Frage, die an uns ging. Und wir spürten, dass wir darauf eine konkrete Antwort geben wollen. Wir entschieden uns gemeinsam, als ganz kleiner Verein von wenigen Leuten auf der Gasse zu bleiben. Wir versuchten auf ihre Frage zu antworten: Tag für Tag. Und es entstand, was bis heute geworden ist. Nicht, dass wir das am Bürotisch projektiert hätten. Sondern aus dem Hören im Moment und im Miteinander – von vielen Menschen, die sich auch von der Frage und der Not der Menschen bewegen liessen und sich mit uns zusammenschlossen. Und so entstand die «Freiluft»-Mensa – die tägliche Essenausgabe – hinter dem 25-Hours-Hotel, unser Lokal Primero, die Wohnungen, der Sprachkurs, die Schreibstube… Und wir durften und dürfen bis heute viel Unterstützung erfahren: Naturalspenden, Geldspenden, Freiwillige, die ihre wertvolle Zeit schenken und ein grosses Engagement leben. Wir sind einfach sehr, sehr dankbar.

Wenn wir der Hoffnung ein Gesicht geben

Vulnerable Menschen gab es und gibt es immer: in jeder Stadt, in jedem Dorf – in der Gesellschaft. Ihnen gehört unsere besondere Aufmerksamkeit und Unterstützung. Für uns ist klar: Ihnen gehört der Platz in der Mitte unserer Gesellschaft. Damit sie neue Hoffnung schöpfen können und ihre «Beine» vielleicht sogar wieder so stark werden und sie selber gehen können… Jeden von uns kann es treffen – aus heiterem Himmel, wie wir es aus so manchen Geschichten erfahren, die uns Betroffene erzählen…. Eine schwere Krankheit oder der tragische Verlust des Partners durch einen schweren Unfall kann schon genügen, dass alles zusammenbricht… Dann braucht jeder Mensch jemanden, der zu ihm oder zu ihr steht, einen Menschen, einen Freund und eine Freundin an der Seite, jemand, der Wertschätzung und Zuwendung schenken, gerade dann, wenn es schwer ist.

Die Kühle in der Gesellschaft, in der jeder sich selbst der Nächste zu sein scheint, braucht ein wärmendes Feuer, braucht Menschen mit innerem Feuer und Leidenschaft um dabei zu bleiben, an der neuen Welt zu bauen.


Wer «incontro» in irgend einer Form, auch als Freiwilliger oder Freiweillige, unterstützen möchte, findet auf der Homepage mehr Informationen über den Verein und die Kontaktdaten: www.incontro-verein.ch