… denn du bist auch die bunten Schafe, die angesichts von Ungerechtigkeit und Diskriminierung lauthals blöken. Kolumne.

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Ich werde oft als schwarzes Schaf bezeichnet, und ab und zu auch als Anti-Patriotin oder Nestbeschmutzerin. Zum Beispiel wegen Texten wie dem Offenen Brief an Bundesrat Cassis oder meiner Kolumne über die vermeintliche Schweizer Neutralität.

Vor allem die Aussage, dass ich mich manchmal schäme, Schweizerin zu sein, stösst vielen sauer auf. Deshalb möchte ich heute sagen, was ich bisher versäumt habe: Danke Schweiz! Natürlich bestehst du nicht nur aus herzlosen Konzernen und wirtschaftshörigen Politikerinnen und Politikern, denen ihr eigener Wohlstand wichtiger ist als Umweltschutz und Menschenrechte.

Natürlich bist du auch die vielen Menschen, die voll und ganz hinter sozialen Anliegen stehen und sich mit allen Mitteln dafür einsetzen, Ausbeutung und Ungleichheit ein Ende zu setzen. Die sich dafür interessieren, was jenseits des helvetischen Tellerrands passiert. Die sich erschüttern lassen und Seite an Seite mit denen kämpfen, die unter der globalen Misere leiden. Ich kenne nur einen Bruchteil von ihnen, doch ohne sie wäre ich verloren.

Liebe Schweiz, natürlich bist du nicht nur die SVP, die für ihre menschenfeindlichen Kampagnen gern das Sujet der weissen Schäfchen verwendet, die ein schwarzes mit Fusstritten aus dem Land kicken. Natürlich bist du auch die Bewegung «Moutons de garde» (Wachschafe), die als Reaktion auf die SVP-Schafe Sticker mit farbigen Schafen verteilt hat und in ihrem Manifest schrieb: «Weil die Welt weder weiss noch schwarz ist, und weil keine Lösung in Hass oder Ablehnung wurzelt. Wir rufen die politischen Parteien, die Lobbys und die Medien des Landes dazu auf, alle Schritte, die Hass, Angst, Rassismus oder Fremdenfeindlichkeit schüren, abzulehnen und unnachgiebig zu verurteilen. Und wir sagen: Finger weg von meinem Schaf!»

Wenn ich im Ausland von der Schäfchen-Affäre erzähle, sind die meisten schockiert. Man assoziiert die Schweiz in der Regel nicht nur mit Landschaften voller Milka-Kühe, sondern auch mit einem guten Lebensstandard und einem angenehmen, friedlichen Zusammenleben. Und geht ganz selbstverständlich davon aus, dass es keinen Rassismus, keine Armut und keine sozialen Ungleichheiten gibt. Dass alle gut abgesichert sind, Zugang zu Bildung und medizinischer Versorgung haben und ein Leben ohne finanzielle Sorgen führen.

Wenn ich dann ein bisschen aus dem helvetischen Nähkästchen plaudere, reichen die Reaktionen von Staunen bis Empörung. Wer hätte gedacht, dass man in der Schweiz mit einem ausländischen Namen gleich aussortiert wird, wenn es um Wohnungs- oder Jobbewerbungen geht? Oder dass fast ein Viertel der Bevölkerung armutsbetroffen oder armutsgefährdet ist, will heissen Krankenkasse oder Arztbesuche nicht bezahlen oder ihren Lebensunterhalt nicht bestreiten kann?

Es gibt so viele Missstände in der vermeintlich paradiesischen Schweiz, die einfach totgeschwiegen werden. Doch heute will ich keine weiteren Geschichten über Menschen auspacken, die ausserhalb der Blase leben, die man als die Blase der alten weissen Männer bezeichnen muss – auch wenn sich in ihr auch Junge und Frauen tummeln. Sie haben keine Ahnung, wie die Realität anderer Bevölkerungsgruppen in ihrem Land aussieht, zum Beispiel die von alleinerziehenden Frauen, Migrantinnen und Migranten, Rentnerinnen, Sozialamtbezügern oder Teilzeitangestellten.

Ich will vielmehr und ganz ohne Sarkasmus deklarieren: Liebe Schweiz, ich hab dich gern, denn du bist auch die bunten Schäfchen, du bist auch die, die anders denken, du bist auch die, die immer wieder aufstehen und weiterkämpfen, wenn wir aus der Ecke der Ungerechtigkeiten und Diskriminierungen wieder auf den Deckel kriegen. Danke an alle Wachschafe da draussen, die nicht aufhören, lauthals zu blöken!

Über

Nicole Maron

Submitted by christoph on Mo, 04/19/2021 - 17:25

Nicole Maron (*1980) aus Zürich ist Journalistin und Buchautorin. Seit 2017 lebt und arbeitet sie in Bolivien und Peru. Ihre Schwerpunkte sind umwelt- und sozialpolitische Themen wie Flucht und Migration, globale Gerechtigkeit, Konzernverantwortung und Menschenrechte. 

Von Nicole Maron ist zuletzt erschienen: «Das Blut des Flusses» – Der in Espinar/Südperu gedrehte Dokumentarfilm zeigt auf, welche gravierenden Schäden das Schweizer Bergbauunternehmen Glencore vor Ort anrichtet.
https://www.youtube.com/watch?v=9Rj7lJc1GWY